«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Baritsch

(Sennwald)

Steile Halde zuoberst in der Sennwalder Alp Rohr, auf 1500 bis 1600 m ĂŒ. M., sĂŒdöstlich unter dem Rohrgrat, sĂŒdwestlich (d. h. vom Tal aus gesehen links) unter dem schroffen Bergkopf des Hohen Kasten. Der Name wird als sĂ€chliches Wort verwendet: «s Baritsch»; man ist «im Baritsch» oder «uf Baritsch». Lange blieb die Herkunft dieses Namens im Dunkeln. Erst die namenkundliche Erforschung des benachbarten FĂŒrstentums Liechtenstein förderte ein grösseres Verbreitungsgebiet zutage und brachte Bewegung in die Sache. Denn im dortigen Unterland kommt der Namentyp Bretscha gleich dutzendemal vor, und zu diesem sind eingehende Untersuchungen angestellt worden.

Um die Deutung dieses Namens hat sich die Forschung lĂ€nger ergebnislos bemĂŒht. In Ă€lteren Namensammlungen erschien er lediglich als «Felskopf im Rohr», aber ohne Deutungsvorschlag. Valentin Vincenz versuchte es mit einer romanischen Wortverbindung pra Ritsch ‘Wiese eines Mannes namens Ritsch’; jedoch war er selber offensichtlich nicht gĂ€nzlich ĂŒberzeugt von diesem Vorschlag, weshalb er weiter noch einen Bezug zu romanisch bargia f. ‘Alpscherm’ erwog, nĂ€mlich in Form einer (sonst freilich nicht bekannten) Ableitung *bargitscha f. ‘kleines AlpgebĂ€ude’ (?). Die Vorstellung, der Name könnte von den AlpgebĂ€uden ausgegangen sein, liess Vincenz in einem Nebensatz noch vermuten, Baritsch sei vielleicht gar der alte Name der Alp Rohr. Wir werden dieser Vermutung weiter unten wieder begegnen, und zwar als Gewissheit – wenn auch mit anderer BegrĂŒndung.

Wie schwierig die WegverhÀltnisse in der Zufahrt zur Sennwalder Alp Rohr sind, lÀsst sich dieser Ansicht leicht entnehmen. Wir befinden uns hier noch unterhalb der Alp, in der Schlucht des Rohrbachs, bei der Adamsplatte, unter dem Platzwald. Links die Galerien und Tunnels der Strasse. Die Alp bildet einen halbrunden Trichter, der sich nach unten zunehmend verengt und hier den engsten Punkt erreicht. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Gerade hier tritt wieder einmal deutlich zutage, wie wichtig es bei der Deutungsarbeit ist, nicht bloss im lokalen Bereich zu verharren, sondern das Gesichtsfeld ĂŒber den «eigenen» engen Kreis hinaus zu erweitern und danach zu trachten, ein möglichst grossrĂ€umiges Bild der Namenlandschaft und eine möglichst umfassende Sicht auf die Problematik eines Namens zu erlangen. Nicht umsonst musste der Versuch scheitern, einem Namen wie Baritsch in rein lokaler Betrachtung, ohne das Wissen um seine weitere Streuung beizukommen, ihn in seinem Wesen zu erfassen und zu durchschauen.

Dazu ist hier zunĂ€chst das Folgende gemeint: Neben das Ă€ltere Baritsch(a) könnte zusĂ€tzlich eine jĂŒngere, zusammengezogene Form Britscha treten. Jedenfalls ist dieses Â«Ăœberspringen» eines romanischen Vortonvokals (hier Bar- > Br-) im Werdenberg und seiner Umgebung allgemein ĂŒberaus hĂ€ufig zu beobachten; man vergleiche etwa die Ortsnamen Glanna aus CalĂĄnda, Schgun aus TschaggĂșn, oder Ă€lter mundartlich den Frauennamen Mreja aus MarĂ©ia ‘Maria’.

Entsprechendes ist bei Baritscha tatsĂ€chlich passiert: Wir finden eine «synkopierte» Form Britscha in der Gemeinde Sennwald ebenfalls, und zwar gleich mehrfach: 1) Britscha1 (Wiese im sĂŒdwestlichen Saxer Riet, sĂŒdlich vom Rofisbach, in der Schorte); 2) Britscha2 (Wiese in der Talebene östlich der FrĂŒmsner Dorfteile Amalerva und Grista, in der Erle, beim Gristamad); 3) die Verkleinerungsform Britschli (Wald am nördlichen hinteren Sennwalder Berg, sĂŒdöstlich unter der Chobelwand, unter der Alp Rohr). Wenn man einmal erkannt hat, dass die Typen Baritsch und Britscha historisch gleich sind, dann folgen daraus neue AnknĂŒpfungen und Erkenntnisse, die uns der Lösung nĂ€herfĂŒhren.

Blick vom WĂ€nneli aus nordostwĂ€rts zum Hohen Kasten. Davor erstreckt sich der Rohrgrat. Der grĂŒne Hang in der Mitte heisst Baritsch; er fĂ€llt steil gegen SĂŒdosten ab. Bild: Hans Jakob Reich, Salez. 

Auf die ganze Gruppe aufmerksam wurde ich wĂ€hrend der Arbeit am «Liechtensteiner Namenbuch» (das Ortsnamenbuch entstand in den Jahren 1981-1999, anschliessend bis 2008 noch ein Personennamenbuch, vgl. www.namenbuch.li). Dort war es nun geradezu unĂŒbersehbar, wie stark verbreitet der Typ Britscha (bzw. nach liechtensteinischer Aussprache: Bretscha) im Liechtensteiner Unterland (bis hinauf nach Schaan) ebenfalls ist (und war): Bretscha, Bretschle, Brunnabretscha, Erlabretscha, Egetabretscha, Benderer Bretscha, Gross Bretscha, †Hofbretscha, †Britschenmahd, †BritschenbĂŒhel, †Britschengraben, †Pfarrbritschen, †Rohrbretscha, †Pfrundbritschen, †Lang Britschle, usw. – insgesamt fast 60mal, allein oder in Zusammensetzungen.

Der unvergessene Liechtensteiner Regierungschef und Heimatforscher Dr. h. c. Alexander Frick (1910-1991) hat sich im Aufsatz «Bretscha (Britschen), ein auf Liechtenstein beschrĂ€nkter Flurname» (im «Jahrbuch des Historischen Vereins fĂŒr das FĂŒrstentum Liechtenstein», Bd. 73 [1973], 249ff.) ausfĂŒhrlich zu dem Namentyp geĂ€ussert und viel zu dessen KlĂ€rung beigetragen. Aber gleich wie Valentin Vincenz von Sennwald aus den Schulterschluss mit den Liechtensteiner Bretscha-Namen ĂŒbersehen hat, blieb es in umgekehrter Richtung auch Alexander Frick verborgen, dass der Namentyp sehr wohl auch noch ausserhalb Liechtensteins vorkam – in der Gemeinde Sennwald eben, sowie ferner auch im Raum Feldkirch, wo sich ebenfalls Namen wie Britschen, Britschengraben, Britschle finden.

Frick macht die interessante Feststellung, dass in seinem Untersuchungsraum Bretscha offenbar nicht nur als Name, sondern in der dortigen Ă€lteren Mundart auch als Sachwort vorhanden war: so heisse Bretschaboda ‘Torfboden, Moorboden’, und auch Zusammensetzungen wie Brunnabretscha (Mauren), BĂŒrgerheimbretscha, Egetabretscha, Erlabretscha, Gross Bretscha (alle Eschen) usw. lassen kaum Zweifel offen, dass Bretscha auch als bĂ€uerliches Sachwort (fĂŒr ein Ried) verwendet wurde. Zudem lĂ€sst sich aus der Formulierung, es gebe einen «oberen / unteren / Ă€usseren Pritschen», ableiten, dass das Mundartwort Pritschen/Bretscha maskulin verwendet wurde (also: «der Bretscha»; siehe dafĂŒr Frick 1973, S. 251).

Die Alp Rohr. Im unteren Teil, im Umkreis der AlpgebÀude ist das Weideland verhÀltnismÀssig flach und vielfach feucht. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Mit der Bestimmung der sprachlichen Herkunft dieses Worttyps tut man sich nun allerdings recht schwer. Deutsch ist der Name ja nicht, und auch eine Herleitung aus dem Romanischen scheint nicht in Sicht. Es muss wahrscheinlich noch weiter zurĂŒckgegriffen werden. Anscheinend gab es eine bereits vorrömische Form *MarĂ­tscha, die dann (als Sachwort) ins Romanische und von dort aus schliesslich auch in die alemannische Mundart gelangte und wohl in beiden Sprachepochen auch in Ortsnamen einging. Im Deutschen nun kam es zum Zusammenzug von *Maritscha zu M’ritscha. Daraus wiederum ist dann Britscha (Bretscha) geworden, weil es (noch) leichter ausgesprochen wird. Es ist derselbe lautgeschichtliche Vorgang wie beim (bereits erwĂ€hnten) Frauennamen Maria, dessen alte Form MarĂ©ja bei uns zu M’rĂ©ja wurde. FĂŒr den schliesslichen Übergang von Mr- zu Br- (M’ritscha > Britscha) sei als Parallelfall erinnert an romanisch marenda f. ‘Imbiss’, das als Reliktwort erhalten ist im Liechtensteiner Oberland als Mrend m. ‘Nachmittagsimbiss’, im Unterland aber als Brend (beide Formen sind auch in Vorarlberg verbreitet).

Zur sprachlichen Herkunft dieses ursprĂŒnglichen Typs *Maritscha sind zahlreiche Mutmassungen geĂ€ussert worden; es wurden dabei die unterschiedlichsten antiken Sprachfamilien herbeigezogen. Da sie aber alle nicht zu einem eindeutigen Ergebnis fĂŒhren, wollen wir an dieser Stelle auf ihre Nachzeichnung verzichten. Im Werdenberger Namenbuch, Bd. 7, S. 79-81, lĂ€sst sich nachlesen, was wir dazu zu sagen wussten.

Was den sachlichen Hintergrund der Benennung angeht, lĂ€sst sich feststellen, dass der Ortsnamentyp *Maritscha (Britscha/Bretscha) offenbar ĂŒberall auf riediges GelĂ€nde bezogen ist. Diese Beobachtung fĂŒhrt den Forscher fast zwangslĂ€ufig zur Frage, ob nicht der Wortstamm mar- (von Maritscha) «irgendwie» mit deutsch Moor n., oder mit französisch marais m. ‘Moor’ (aus germanisch-frĂ€nkisch *marisk), oder auch mit italienisch marazzo m. ‘Morast’ zusammenhĂ€ngen könnte. Aber da bleibt vieles vorerst recht unklar und undurchsichtig, und die Diskussion solcher Fragen muss zunĂ€chst den Kennern der sprachlichen FrĂŒhgeschichte des Alpenraumes vorbehalten sein.

Interessant ist immerhin, dass sich auch in der Namenwelt GraubĂŒndens Spuren finden, die – bisher unerkannt bzw. anders gedeutet – möglicherweise in unseren Zusammenhang gehören (womit dann Bretscha endgĂŒltig nicht mehr «ein auf Liechtenstein» und Umgebung beschrĂ€nkter Ortsname wĂ€re). Es gibt nĂ€mlich in BĂŒnden einen Pleun Maretscha in Morissen, ein Muritscha in Salouf, ein urk. †Maritsches in Jenins, ein Muretschas in Vaz, einen Plaun Moritsch in Santa Maria, usw.

Solchem feuchten GelÀnde mit der entsprechenden Vegetation verdankt die Alp ihren Namen (und nicht erst den heutigen). Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Diese FĂ€lle sind von Andrea Schorta (im RĂ€tischen Namenbuch Bd. 2, 218) sĂ€mtlich als Abkömmlinge von lat. murus m. ‘Mauer’ gedeutet worden. Ob dies bewusst und sachlich begrĂŒndbar geschah oder bloss in gewisser Verlegenheit, weil sich kein anderer Ansatz anzubieten schien, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls scheint aber doch auffĂ€llig, dass es mindestens bei Namen wie Pleun Maretscha, Plaun Moritsch (romanisch plaun m. ‘Ebene, Boden’) durchaus plausibel erschiene, an einen ‘Riedboden’, ein ‘Flachried’ zu denken, die FĂ€lle also auch hierherzustellen und den Bezug auf ein GemĂ€uer dort fahren zu lassen – ‘Mauer’ und ‘Riedland’ passen ja begrifflich wirklich nicht unbedingt zusammen.

Es wĂ€re dies nicht der einzige Fall, der erweisen wĂŒrde, wie auch die bĂŒndnerische Namenforschung aus den Erkenntnissen der altromanischen Zonen ausserhalb GraubĂŒndens Nutzen ziehen kann. Wie ĂŒberhaupt die bĂŒndnerromanische Sprachforschung stets gut daran tut, auch die unterrĂ€tische «Romania submersa» (die «untergetauchte RomanitĂ€t» nördlich von GraubĂŒnden: Sarganserland, Werdenberg, Gasterland, Liechtenstein, SĂŒdvorarlberg) aufmerksam im Auge zu behalten (jetzt, wo deren Materialien weitgehend erschlossen sind, steht dem ja – anders als noch zur Zeit von Andrea Schorta – nichts mehr entgegen). Wir kamen schon zu Anfang dieser Serie, beim allerersten hier behandelten «Namen des Monats», nĂ€mlich Prapafir Wartau (April 2019 – man öffne hier das «Archiv» der bisher besprochenen «Namen des Monats») auf diesen Umstand zu sprechen.

Damit kehren wir zum Ausgangspunkt der heutigen Betrachtung zurĂŒck und nehmen die Sennwalder Namen dieses Typs nochmals prĂŒfend in den Blick: Sie alle lassen sich, wie die örtlichen Befunde zeigen, leicht mit der hier zentralen Thematik des feuchten GelĂ€ndes verbinden: Britscha1 liegt selber im Saxer Riet, Britscha2 bei FrĂŒmsen befindet sich im Gebiet Erle1, was seinerseits (aufgrund des Erlenbewuchses) unzweifelhaft die NĂ€he zum Wasser und riediges GelĂ€nde anzeigt. Vom Britschli (unter der Alp Rohr) wurde bereits von Valentin Vincenz der Gedanke geĂ€ussert, dass dies der alte Name der Alp Rohr sein könnte (er meinte dies allerdings aufgrund einer falschen Voraussetzung). Dennoch kann nun zur Gewissheit erhoben werden, dass die Alp seit alter Zeit und bis ĂŒber die Schwelle der Verdeutschung herauf *Maritscha, dann Baritscha und schliesslich Baritsch hiess. Das Britschli ist sozusagen als letzter Rest des alten Namens noch am unteren Rand des Alpgebiets hĂ€ngengeblieben, nachdem der Name Rohr sich im Alpgebiet festgesetzt hatte, wĂ€hrend umgekehrt der Name Baritsch an die oberste Halde unter dem Rohrgrat hinauf verdrĂ€ngt wurde (obwohl dort von Riedboden keine Rede mehr sein kann).

Der Ersatz des alten Worttyps *Maritscha/Britscha durch den deutschen Name Rohr ist, wie sich damit erweist, eng mit den RealverhĂ€ltnissen verknĂŒpft: Rohr heisst ja ‘Schilfrohr, Röhricht’, das auf riedigem Boden wĂ€chst, und damit wiederholt die deutsche Bezeichnung nur die Bedeutung, die auch dem Worttyp *Maritscha/Britscha innewohnte. Und feuchten, riedigen Boden findet man in der Alp ja sehr wohl, vorwiegend in deren unterem Teil, wo das steile GelĂ€nde flacher und trichterförmig verengt zusammenlĂ€uft. Es scheint also, dass diese aus der Sicht der Bewirtschafter wesentliche Eigenschaft des feuchten, riedigen Bodens seit vorchristlicher Zeit und ĂŒber alle Sprachwechsel hinweg den Alpnamen bestimmt hat.

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