«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Bluetlosen

(Grabs)

Der merkwürdige Name bezeichnet ein Waldgebiet an unwegsamem, schiefrigem Tobel zuhinterst am Grabser Berg, im Simmitobel hinter Räppenen, an dem steil zur Simmi abfallenden bewaldeten Nordhang, südlich über der Stelle, wo das Strässchen vom Grabser Berg her die Kantonsstrasse von Gams nach Wildhaus erreicht. Zur Hauptsache aber liegt der Wald dieses Namens auf Wildhauser Boden, nämlich westlich des besagten Tobels, im Dreieck zwischen diesem, der Kantonsstrasse und dem Ratzenmoos. Der Tobeleinschnitt, der auch Bluetlosentobel genannt wird, führt den Bluetlosenbach; älter wurde dieser im Oberlauf, beim Rutschgebiet namens Schlipf, auch †Schlipfbach genannt. Der Bach bildet bis über den Schlipf die (einstmals umstrittene) Grenze zur Gemeinde Wildhaus (heute Wildhaus-Alt St.Johann).

Um das Gebiet des Bluetlosentobels in den Blick zu fassen, begeben wir uns am besten auf die Gegenseite, zum sonnigen, lieblichen Wiesland im Schönenboden (Wildhaus). Der Kontrast zum unwirtlichen Wald- und Rutschgebiet am jenseitigen Schattenhang könnte nicht grösser sein. Das geschlossene Waldgebiet (links der Grabser Chreienwald, rechts der Wildhauser Schmidswald) wird unterbrochen von zwei teils schluchtartigen, tiefen Einschnitten: links der Bildmitte die Gupfenrisi, rechts davon der Schlipf (durch letzteren fliesst der Hauptarm des Bluetlosenbachs). Das Waldgebiet Bluetlosen liegt unten im Bild links der hellgrünen Lichtung, unter der Gupfenrisi. Die bewaldete Hügelkuppe über den beiden Schluchten ist der Gupfenbühel (im Grabser Älpchen Gupfe). Im Hintergrund die Grabser Gipfel Margelchopf und Chapf (links), rechts der Mitte der breite Gämsler und rechts hinten der Sichelchamm. Bild: Werdenberger Namenbuch.  

Liegt nicht eine eigenartige, beklommene Stimmung über dieser heute wohl den Wenigsten bekannten Ortsbezeichnung? Was mag dort wohl Blutiges geschehen sein? Oder was ist es, das an jenem Ort «blutlos», also geisterhaft, herumspukte oder dahinvegetierte? So fragt man sich unwillkürlich. Sogar das Idiotikon, das Schweizerdeutsche Wörterbuch, gab solche Vorstellungen weiter, hat es doch (in dem 1905 erschienenen Band 5, Seite 222) den Namen wie folgt vermerkt, und zwar tatsächlich unter dem Stichwort «Bluet». Es steht dort (im Absätzchen «Bluet in Lokalnamen»): «In den BluetlosenName eines übelberüchtigten Waldes am Wege von Wildhaus nach dem Rheintal; wohl mit Bezug darauf, dass dort das ‘Totenvolk’ sein Wesen trieb». Offensichtlich hatte der lokale Korrespondent seinerzeit die Redaktion des Schweizerdeutschen Wörterbuchs in Zürich in diesem Sinne instruiert. Er folgte darin der düsteren Vorstellung, die offenbar schon länger beim einheimischen Volk kursierte hinsichtlich dieses angeblich verrufenen Ortes am «Ende der Welt».

Von der Badweid aus führt ein Strässchen durch das Waldgebiet hinauf nach Lärchengarten, Cholbenböden, Langenwald und schliesslich ins Älpli (Gamperfin). Wir folgen ihm ein kurzes Stück bis Cholschopf und Lettboden. Dort öffnet sich ein Einblick in eine seitliche Rinne, die alsbald in das Haupttobel des Bluetlosentobels mündet. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Eine ähnliche Tonlage schlägt bereits eine Landesbeschreibung von 1766 an, abgedruckt in der «Werdenberger Chronik» von Niklaus Senn (Band 2 von 1862, Seite 219). Dort heisst es (die Rede ist vom hinteren Grabser Berg): «Oben auf der Höhe an der Strasse in die Grafschaft Toggenburg ist ein Schwefelbad. Es geniesst aber schlechte Bequemlichkeit. Durch einen finstern Wald (der blutlose Wald), der nahe beim Bad anfängt, kömmt man in die Gegend Wildhaus hinüber, die oberste Dorfschaft in der Grafschaft Toggenburg». Auch hier weist die Wortwahl in die bereits bekannte Richtung – ein Ort, vor dem man sich besser in Acht nimmt. Badehäuser gab es übrigens dort hinten mehr als eines, einmal das nachmalige Kurhaus Bad Grabserberg, das heutige Bädli (älter auch Bätzlerbad oder Bätzlibad genannt, vor der Bätzleregg gelegen), dann befand sich auch weiter hinten, in der Badweid, ganz nahe beim Bluetlosen, eine entsprechende Einrichtung.

Hier das einstige Schwefelbad am Bruggbach, vor der Bätzleregg, heute «im Bädli» genannt. Von hier aus sind es noch etwa zwei Kilometer bis zur Badweid und zum Bluetlosentobel hinein. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Die Beschreibungen des Ortes sind also durchwegs eher kritisch; allerdings ist die ihnen zugrundeliegende Namendeutung auch sehr zu bezweifeln. Die Frage liegt nahe, ob der Waldhang den ihm vorauseilenden unguten Ruf auch wirklich verdient habe. Was steckt wirklich hinter dem Namen? Hat er tatsächlich mit Blut zu tun? Sicher – «schön» im landläufigen Sinn ist dieses schattige, feuchte Tobel nicht; das leuchtet jedermann ein, der sich das unwegsame Gebiet abseits der Strasse aus der Nähe ansieht.

Nach eingehender Prüfung sind wir erfreulicherweise in der Lage, das unfrohe Bild in ein freundlicheres Licht zu rücken und die «blutige» Spur zu tilgen, die den Ort seit langem prägt. Hierzu verhelfen uns die älteren urkundlichen Nennungen, die ich vor 54 Jahren im Landesarchiv Glarus, im Staatsarchiv Luzern sowie zuvor schon im Grabser Ortsarchiv «ausgegraben» hatte. Wenden wir uns also nun den urkundlichen Zeugnissen zu!

Die Ansicht vermittelt einen guten Eindruck von der Urtümlichkeit der Landschaft. Wir stehen vor einer noch einigermassen zugänglichen Seitenrinne des Bluetlosentobels, unweit des Absturzes ins Haupttobel. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Im Helvetischen Kataster von 1801 (Folium 49 und 98) erscheinen die Formen Bluthlossen und Blutlossen, die im wesentlichen der heutigen entsprechen. Auch in einer Urkunde aus dem Jahr 1560 (ebenfalls im Ortsarchiv Grabs) steht die Form plůtlosen, die noch nichts Neues bietet. Dennoch müssen wir hier noch etwas verweilen, denn dieses Dokument handelt von einer Auseinandersetzung um die Waldnutzung und damit um den Verlauf der Landmarchen zwischen Toggenburg und Werdenberg im fraglichen Gebiet, welche wir nicht unbeachtet lassen können. Die Landvögte der Herrschaft Werdenberg und der Grafschaft Toggenburg legten in der Urkunde von 1560 dar, wie sich ein Streit erhoben hatte zwischen einigen Grabsern (Gallus Boch, Simon Schlegel und andere) auf der einen Seite sowie dem Wildhauser Hans Räbsamen auf der anderen, und zwar «von wegen ettlichen Holtzes so die obgenanten … personen oberthalb dem gut so man nempt Plutlosen nebent dem Schlipffbach hinuf gehowen und … hinweg gfürt» hätten.

Die Urkunde von 1560, in welcher der Streit um den Grenzverlauf im Gebiet Bluetlosen entschieden wurde. Das Dokument liegt im Ortsarchiv Grabs. Bild Werdenberger Namenbuch.

Ausschnitt (oben rechts) aus der Urkunde von 1560 (Ortsarchiv Grabs, O 1560-1); der Name pluotlosen ist auf der 6. Zeile von oben sichtbar. Bild Werdenberger Namenbuch.

Räbsamen meinte, er hätte diesen Wald ererbt und dieser gehöre ihm; die Grabser wiederum erklärten, er liege «allerdingen Jn Grapßer Kilchspell und gehöre Jnn gemainen Holtzhow, sölle ouch niemandts Aigenthum sin, sonder Jrs Erachtens die recht Landtmarch … geachtet werden, Namlich das Jnner Tobel gegen Sant Johann wärth.» Damit meinten die Grabser vermutlich den nächsten Bach weiter westwärts, der zwischen Ratzenmoos und Giessen herunterkommt und bei der ARA Wildhaus in die Simmi mündet; danach hätten die Waldgebiete Bluetlosen und Schmidswald noch ganz zu Grabs gehört.

Hier das fragliche Gebiet an der Gemeindegrenze von Grabs (rechts) und Wildhaus (links) und zugleich der Landmarch zwischen Werdenberg und Toggenburg. Die rot markierte Linie entspricht dem heute geltenden Grenzverlauf; die gelb markierte wird die Ansprüche der Grabser von 1560 wiedergeben, nach welchen das Gebiet Bluetlosen noch ganz auf Grabser Gebiet gelegen hätte. Ausschnitt aus der Landeskarte der Schweiz, 1:25'000, Blatt 1135 Buchs.

Dass daran etwas Wahres hätte sein können, scheint tatsächlich aus zwei noch älteren Werdenberger Dokumenten hervorzugehen, in denen festgehalten wurde, dass die Toggenburger für den Holzhau im Grabser Wald (!) der Herrschaft Werdenberg eine jährliche Abgabe schuldeten: In einem im Staatsarchiv Luzern liegenden Rodel über die Einkünfte in der Herrschaft Werdenberg von 1485 (StALU, 207, 2988) heisst es: «Item die von Sant Johann III lib. [= (schulden) drei Pfund] von dem gehow uf dem grapser wald. … Item X ß Costentzer dn [= 10 Schilling Konstanzer Denar (?)] von der glůtlösin». Und in dem in Glarus verwahrten Werdenberger Urbar von 1543 (StAGL, III, WeU 35, S. 16) steht: «Die vom Wilden Huss gebend järlich drü pfund pfennig von des holtz hows wegen. Die von Sant Johann geben alle Jar von der glůtlössin zechen sch[illing] pf[und]. Ist abglöst im 1549 Jar.» Das muss ja wohl heissen, dass hier ein altes Besitzrecht seitens der Herrschaft Werdenberg vorlag, auf welches sich die Grabser im Prozess denn auch beriefen.

Demgegenüber stellten sich die Wildhauser auf den Standpunkt, die Landgrenze verlaufe nicht etwa im weiter westlichen Tobel (siehe die gelbe Linie im Kartenausschnitt), «… sonder das Tobel dardurch der Schlipfbach  nider rünne sölle die recht Landtmarch sin obnen in Berg und unnen jn Zininen [= in der Simmi]». Mit dieser Auffassung drangen die Toggenburger beim Gericht dann auch durch, und seither scheint der Grenzverlauf, wie wir ihn heute kennen (rote Linie), einigermassen unbestritten (abgesehen von der merkwürdigen, aber folgenlosen Episode aus dem Jahr 1759, als der Pater Statthalter von Neu St.Johann «mit einem zahlreichen Begleit» in die Grabser Badweid [!] eindrang und dort Grenzstangen nach seiner Vorstellung setzte; man lese dazu im Werdenberger Namenbuch, Band 4, S. 32, unter †Badhus, das ausführliche Zitat von 1759!). Dass die oben erwähnte Ablösung der alten Zinspflicht vom Jahr 1549 im Zusammenhang mit der nun neu festgelegten Grenzziehung eine Rolle spielte, ist anzunehmen. 

Doch nun wartet noch immer die Frage nach der sprachlichen Herkunft des Namens auf eine Erklärung. Etwas wird dem aufmerksamen Leser bereits aufgefallen sein: in den oben zuletzt zitierten älteren urkundlichen Texten lautet die Ortsbezeichnung auf einmal anders: 1485 glůtlösin, und 1543 glůtlössin.

Diese überraschend aufgetauchten älteren Formen auf Gluot- geben der ganzen Sache allerdings ein völlig anderes Gesicht.

Der Bluetlosenbach unmittelbar vor seiner Einmündung in die Simmi, dort, wo das Strässchen von der Badweid her die Wildhauser Strasse erreicht. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Damit scheint es, dass wir der ganzen «Blut»-Geschichte den endgültigen Abschied geben können! Und auch den Deutungsversuch von Heinrich Gabathuler von 1928 können wir bedenkenlos abweisen, den er (S. 74) wie folgt umschrieb: «Im Simmitobel unterhalb Wildhaus liegt ein Waldgebiet im Blutlosen. Das ist lat. paludosa (silva) ‘Sumpfwald’». Nein, das ist es sicher nicht – der Ansatz wäre schon ganz unwahrscheinlich gewesen, auch wenn die Namensform auf Bl- (Pl-) die gültige gewesen wäre, und im Lichte der nun gefundenen alten Formen auf Gl- kann man ihn vollends ad acta legen.

Wir sehen also, dass die alte Form Gluetlosen lautete, die im Lauf des 16. Jahrhunderts dann volksetymologisch nach Bluet abgelenkt worden ist. Erst mit dieser naiven Umdeutung hielt der «blutige» Anstrich des Namens in den Köpfen Einzug. Die eigentliche, auch sachlich einleuchtende Erklärung des Namens aber hat von der älteren Form auf G- auszugehen. Sie lautet wie folgt:

Der Name gehört zum Sachwort schweizerdt. Gluet f. ‚Glut; glühende Kohlen’ (Id. 2, 655) als Bestimmungswort, und zu mittelhochdt. *glosin f. ‚Ort, wo es glimmt, glüht’ als Grundwort (Abstraktbildung auf -(i)n zum Verb glosen ‚ohne Flamme brennen, glimmen, unter der Asche glühen’; vgl. Grimm, Dt. Wörterbuch, Bd. 8, 208f.; auch Lexer 1, 1038). Also: «bi der Gluet-Glosi», beim Ort, an dem man des Nachts dann und wann (auch aus der Ferne) Kohlenglut glimmen sah.

Der Name bezog sich also offensichtlich auf die in unseren Waldgebieten früher geübte Kohlenbrennerei. Bluetlosen war ein Ort, wo Kohlenmeiler standen und Holzkohle erzeugt wurde. Dass dieses russige Gewerbe auch in der Umgebung, wo wir uns befinden, ausgeübt wurde, bezeugen weiter auch die Namen Cholgrueb (weiter unten im Simmitobel, hinter Schenenwis), Cholhütten (hinter dem Schlipf, unten im Langenwald), Cholschopf (hinten in der Badweid, am Lettbodenweg).

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