«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Elabria

(Wartau)

Ein bekannter Wartauer Alpname ist Elabria. So heisst die Korporationsalp der Dörfer Azmoos und Malans im steilen, feucht-rutschigen Quellgebiet des Trüebbachs. Sie erstreckt sich über dem Bergwald, auf einer Höhe von 1460 bis 1770 m ü. M., ostseitig unter dem Chamm, der die Wasserscheide zur Alpterrasse von Palfris bildet. Erstmals erscheint der Name 1498 als Arbriuw. Es folgen dann um 1600 Labrÿew, 1650 und 1656 Labreüw, 1698 Labrieüw, 1728 Labraüw, 1801 Labrie. Auf der um 1850 gezeichneten Eschmann-Karte (Blatt Sargans) steht ein lustig entstelltes Ellenbrüh. Als Schreibform ist noch heutzutage auch Labrie (oder Labria) bekannt.

Weil die Elabrier Alpgenossen (eine Geschlechterkorporation) auch in der jenseits des Chamms liegenden Alp Tschuggen eine bedeutende Anzahl Alpstösse (Kuhrechte) besassen, taucht der Name Elabria mehrfach auch im altehrwürdigen «Tschukner Alpbuch» auf (S. 2: «Jtem es hatt auch die Alp Labrÿew fünff unnd Sibenzig stöß»). Dieses 1588 begonnene Alpbuch, worin die Rechte und Pflichten der Alpgenossen (etwa die Zaunpflicht) festgehalten waren und wo nun über zweieinhalb Jahrhunderte hinweg die geltenden Besitzverhältnisse verzeichnet und Handänderungen nachgeführt wurden, ist ein überaus stattlicher, in Schweinsleder gebundener Band. Ich stiess auf ihn im April 1971, im Zuge meiner Wartauer Archiverhebungen; er lag damals wohlverwahrt in der «Palfriser Alplade», einer Truhe von 1815, im Haus von Heinrich Gabathuler, «Kantonsrichters», in Fontnas. Im Jahr 2010 gelangte das wertvolle Dokument dann als Depositum der Alpkorporation Palfris in das Staatsarchiv St.Gallen (Signatur: CK 10/1.1.). Der erste Eintrag im Buch war: «Dÿß buoch hatt Caspar Suter von Glarus, pfarer zuo Warthouw, gmeinen stoffel gnossen uff dem Tschucken gschänkt, von deßwägen d[a]z sÿ i[h]n auch zum stoffel gnoßen, wie ein annderen stoffel gnossen hannd angnomen. Den 19. Meÿ nach dem alt:[en] Kal:[ender] Ao. 1588». Das Tschuggner Alpbuch erfuhr im Werdenberger Jahrbuch 1989, S. 68-70, eine schöne Würdigung durch alt Lehrer Mathäus Gabathuler, Azmoos.

Blick südwärts auf Elabria. Im Hintergrund links Balzers und Luziensteig, in Bildmitte der Fläscherberg. Bild: Hansjakob Gabathuler, Buchs.

Ganz hinten im Alpbuch folgten auch noch Nachträge zur Alp Elabria, etwa eine Notiz von 1656: «Uff Sontag vor St.Urbans Tag deß 1656isten Jahrs hand [haben] die Stoffelgnossen der Alp Labreüw, namblichen Atzmas und Mallans […] ein Mehr lassen gohn [d. h. darüber abgestimmt,] wie man die Alp jn gemelten zweÿ Dörfferen ufftheilen soll […]». Und aus dem Jahr 1728 stammt nochmals eine Anmerkung zu «Labraüw» hinsichtlich der Nutzungsrechte durch die Stofelgenossen.

Historische Quellen wie dieses Alpbuch sind natürlich vor allem aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht von hohem Interesse; daneben aber liefern sie, wie andere alte Schriften, auch dem Namenforscher wertvolle Materialien für seine urkundlichen Belegformen.

Zum eingangs erwähnten ältesten Beleg, 1498 Arbriuw, sei nachgetragen, dass nicht bekannt ist, welcher historischen Quelle er entstammt; man findet ihn zitiert (ohne Herkunftsangabe) an ganz unerwarteter Stelle, nämlich im 1964 erschienenen Rätischen Namenbuch (Bd. 2, S. 11). Dieses grosse bündnerische Namendeutungswerk stellt unseren Namen im Verein mit einigen ähnlichen Ortsbezeichnungen aus Graubünden zusammen und zweifellos in den richtigen sprachlich-sachlichen Zusammenhang (wir kommen also weiter unten darauf zurück).

Damit sind wir bei der Frage angelangt, was die bisherige Forschung zu diesem Namen zu sagen wusste. Beginnen wir, so wie es sich gehört, ganz vorne.

Schon bei früheren Gelegenheiten sind wir in dieser Rubrik dem bayerischen Juristen und frühen Namenforscher Ludwig Steub (1812-1888) begegnet (man sehe nach im Archiv zur Rubrik «Name des Monats» etwa unter Nr. 31 Lafadarsch oder Nr. 49 Gauschla). Steub beschäftigte sich zwar vor allem mit der Tiroler Namenwelt, er wandte sich aber (je nach dem ihm zugänglichen Schrifttum) auch Graubünden und dessen Nachbargebieten zu. So fasste er 1854 im Buch «Zur rhätischen Ethnologie» auch den Namen «Elebrín (bei Ragatz)» ins Auge, von dem er irgendwo gelesen haben musste. In diesem dürfen wir zweifelsohne unser Elabria erblicken. Allerdings bleibt sein Beitrag zur Klärung dieses Namens wenig hilfreich; er rekonstruierte daraus nämlich ein im doppelten Sinn sinnloses «rätisches» Urwort *ulavaruna, das es nie gegeben hatte und zu dem er daher auch keine Bedeutungsangabe machen konnte. In der Frühzeit der Namenforschung wurden gelegentlich unter Berufung auf irgendwelche Analogien solche mechanischen «Rückentwicklungen» eines Namens zu einer «Urform» versucht; man ist aber längst von solchen erfundenen Spielereien abgekommen, da sie weder die Namen zu erklären noch einen wirklichen Beitrag zur Rekonstruktion einer «Ursprache» zu liefern vermochten.

Unser Landsmann David Heinrich Hilty beschrieb im Jahr 1890, zwar offensichtlich geländekundig, sonst aber ebenfalls ratlos, die Alp als an mehreren Orten riedig, mit Geröllhalde und Erdrutschen; es fliesse auch schwefliges und saures Wasser. Auf einen Deutungsvorschlag verzichtete er.

Der Romanist Wilhelm Götzinger (in: «Die romanischen Ortsnamen des Kantons St. Gallen», 1891) entschied sich (ohne Not) für eine Schreibung «El Labría»; er verglich den Namen mit «Elleprót» in Mels (heute Ellaprod, Wiese in der Seeztalebene, NW von Heiligkreuz), in welchem er, sicher zu Unrecht, ein lat. illum pratum (‘jene Wiese’) vermutete. Der Vergleich mit diesem Melser Namen brachte ihn der Erklärung unseres Namens nicht näher.

Der Seveler Dorfarzt und Wartauer Heimatforscher Heinrich Gabathuler bezog sich in den beiden Ausgaben seines Ortsnamenbüchleins nicht von ungefähr auf das «ausgesprochene Schlipf- und Rutschgebiet» von Elabria. Als Stichwortform verwendete er 1928 «Labria» («schreibe Labrie, Ellabria»), während er 1944 von der mundartlichen Form «Ellabría» ausging, wiederum mit dem Hinweis «schreibe Labrie». Das El- verstand er fälschlicherweise als romanisch en l’ (also Präposition en + Artikel l’, = ‘im’), und im vermeintlichen Wortstamm Lab- sah er das indogermanische Urwort lab-, das er mit lat. labi ‘gleiten’ verband – was nach ihm zum Rutschhang passte. In der zweiten Ausgabe (1944) konkretisierte er diese Vorstellung mit einem (von ihm erfundenen) mittellateinischen *labretum, wiederum als Bezeichnung eines Rutschgebietes. Das einzig Zutreffende an diesem Vorschlag lag allerdings, wie wir unten sehen werden, in der Endung -etum. Wenn er dabei auch noch den Alpnamen Lawena (älter Elawena, er schreibt «Ellaweina») in Triesen heranzog, so war das angesichts des ähnlichen Anlautes Ela- zwar begreiflich, griff hier aber doch daneben.

Elabria vom Chamm herab gesehen. Über dem Rhein (links) Triesen und Triesenberg, rechts aussen Balzers. Bild: Hansjakob Gabathuler, Buchs.

Bis in die 1960er Jahre blieb die Herkunft unseres Namens also unerkannt. Das änderte sich nun: Im oben schon erwähnten Rätischen Namenbuch lieferte Andrea Schorta des Rätsels Lösung. Er erwähnte den Namen «Labria, urk. 1498 Arbriuw» (den er aufgrund eines Irrtums in seinen Unterlagen zu Sevelen stellte) in Zusammenhang mit einer Gruppe ähnlicher bündnerischer Ortsnamen. Diese fasste er zusammen unter dem Grundwort lat. albarus ‘Weisspappel’, genauer, als Ableitung lat. albar-etu, was als ‘Ort mit Weisspappeln’ zu übersetzen ist. Dieser Namentyp kommt heute hauptsächlich in Italienischbünden vor (so etwa Albareu Poschiavo, †Albareda Vicosoprano, Albareida Stampa). Gerade weil der Name in Romanischbünden selten ist, sah Schorta im Werdenberger Beleg einen Hinweis darauf, dass der Alpname Labria «für sehr hohes Alter der Bildung albaretu in Churrätien» spreche. Nach Schorta galt dieser Deutungsansatz als gesichert und wurde nicht mehr in Frage gestellt.

Auch ich übernahm ihn 1981 im Buch «Die romanischen Orts- und Flurnamen von Wartau». In einem nebensächlichen Punkt allerdings kann ich hier meine damalige Ansicht ergänzen oder präzisieren: Ich meine die Frage, wie das anlautende E- von Elabria zu deuten sei. Dieses wurde nämlich nach Schorta auch vom Churfirstenführer 1968, S. 216, als deutsche Präposition in aufgefasst – also gleich wie etwa bei Eladritscha Wartau (aus in + romanisch ladritsch m. ‘Heugaden’) oder bei Eggastalta Triesen (aus in + romanisch crest’alta ‘Hochegg’). Dieser historische Vorgang, der sich im Werdenberg und seiner altromanischen Umgebung besonders häufig abgespielt hat, wurde in dieser Website wegen seiner Komplexität separat abgehandelt (siehe unter https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/). Man sieht dort, dass in dieser Kategorie von Fällen meist neben die Sprechform auf I(n)- eine Schreibform ohne dieses I(n)- tritt (Ischlawiz/Schlawiz in Grabs, Eladritscha/Ladritscha in Wartau, Eggastalta/Gastalta in Triesen). In dieser Beziehung hat sich der Fall Elabria mit seiner traditionellen Schreibform Labria tatsächlich dieser Kategorie angeschlossen. Insofern ist es durchaus nicht falsch, ihn dieser Gruppe zuzuordnen.

Aber historisch ist der Fall Elabria eben doch ein anderer, denn wenn wir von lat. albaretu ausgehen, gelangen wir ja unmittelbar zu einer altromanischen Frühform *Alb(a)ria; diese wurde dann anscheinend durch Lautumstellung zu *Alabria. Auf dieser Stufe – und erst hier – greift nun die Anlehnung an die erwähnte Kategorie mit Agglutination, indem *Alabria zu Elabria uminterpretiert wurde, eben unverkennbar aufgrund der Auffassung, das E- von Elabria sei von derselben Natur wie das E- von Eladritscha (Ladritscha). Daraus ergab es sich nun auch von selber, dass man aus diesem Elabria eine vermeintlich «ursprüngliche» Schreibform Labria ableitete (die hier nicht wirklich gerechtfertigt ist). Dennoch hatte dieses Labria seit (spätestens) dem 17. Jh. und bis fast zur Gegenwart offizielle Geltung.

Das Alpgebiet von Elabria, gesehen von Südosten (Alp Riet) her. Links oben der Chamm (Übergang nach Palfris), hinten die Gauschla. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Nach den vielen sprachgeschichtlichen Erörterungen müssen wir uns nun aber auch der Frage zuwenden, wie es um die sachliche, das heisst hier: botanische Wahrscheinlichkeit dieser Deutung bestellt sei. Denn die schönste Erklärung wäre wenig wert, wenn sie etwas behaupten würde, was sich mit den natürlichen oder kulturhaften Verhältnissen am betreffenden Ort gar nicht vereinbaren liesse.

Wer sich im Alpgebiet von Elabria umsieht, wird allerdings rasch erkennen, dass wir diesbezüglich nicht mit Schwierigkeiten zu rechnen haben: Pappelarten (Familie der Salicaceae) kommen dort oben nämlich sehr wohl vor. Allerdings nicht die Weisspappel oder Silberpappel (Populus alba, volkstümlich Alber), die auf dieser Höhe nicht mehr wächst, dafür aber die Zitterpappel oder Espe (Populus tremula, volkstümlich Aspe). Wie mir schon 1971 der damalige Azmooser Gewährsmann und Förster Jakob Gabathuler (*1914) versicherte, kommt die Espe in Elabria durchaus vor, ja, es seien sogar noch im 20. Jh. dort Zitterpappeln zur Sicherung des unruhigen Geländes mit gutem Erfolg neu angesetzt worden.

Somit wird es dabei bleiben: Der Name Elabria bedeutet ‘Ort, wo Zitterpappeln oder Espen wachsen’.

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