«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Feltur

(Sevelen)

Das ist der Name des Dorfteils nordöstlich der Seveler Kirche. Dieser erstreckt sich entlang der Landstrasse, im Bereich zwischen Steinriet und ChirchbĂŒnt sowie zwischen Widen1 und Rietli1; das Gebiet ist ganz mit WohnhĂ€usern (und einem Hotelbetrieb) ĂŒberbaut. Heute wird «Feltuur» gesprochen (der Schreibform folgend, und zwar mit sĂ€chlichem Artikel: «s Feltur, im Feltur»), aber noch im 20. Jahrhundert waren «Faltuer», auch «Ifeltuur» gelĂ€ufig. Als Schreibform gilt heute nebst Feltur auch Veltur, und man hört gelegentlich Diskussionen darĂŒber, ob F- oder V- «richtig» sei. Wir werden gleich sehen, dass das Kopfzerbrechen in dieser Frage wenig bringt, denn die RĂŒckverfolgung der Ă€lteren Schreibungen fĂŒhrt uns – endgĂŒltig im 17. Jahrhundert – unvermittelt auf eine Ă€ltere Form Galtur (und Ă€hnlich), und dort stellt sich diese Rechtschreibfrage gar nicht mehr. Das Ergebnis ist einigermassen unerwartet, jedoch klar und ĂŒberzeugend.

Der Dorfteil Feltur, links der Bildmitte, hier aus der Luft gesehen, ist altes Kulturland. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Gehen wir in die Details – leider ist dies zum VerstĂ€ndnis der VorgĂ€nge auch hier unumgĂ€nglich! Die Ă€lteren Schreibungen des Namens bieten ein ĂŒberaus buntes Bild. Im Helvetischen Kataster von 1801 (der ersten landesweiten Katastervermessung in der Schweiz) finden wir den Namen gleich fĂŒnfmal, und jedesmal anders geschrieben: «valtur, viltur, Velthur, Auffeldur, Velldur». Das allein ist nicht auffĂ€llig – es gab ja damals gerade im Bereich der Eigennamen (und erst recht der romanischen) keinerlei Schreibregeln, sodass sich das chaotische Bild halt von selber ergab. Blicken wir noch weiter zurĂŒck: Im Lauf des 18. Jahrhunderts wechselten sich dann «filtur, uffelthur, aufeltur, ufel dur, fildur» – dazwischen fallen nun aber auch «galthur, gladtthĂŒr, galdĂŒr, Giltur, gell tur» auf. Im Fall von uffelthur, aufeltur hat sich in der Schreibung die deutsche PrĂ€position uf, auf an den Namen angeschlossen.

Blick vom leicht erhöhten Gebiet Hinderwingert-WĂ€seli in Richtung Feltur. Im Morgenschatten hinten ĂŒber dem Talgrund Schloss Vaduz. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Im 17. und 16. Jahrhundert wird die angedeutete Tendenz offensichtlich: Es ist die G-Form, die nun als Ă€ltere der beiden Varianten klar in Erscheinung tritt: 1543 glattur, 1570 Gilthur, 1597 galtur, 1617 gladur, 1639 Glatur, Giltuur (bei den Schreibungen auf Glatur scheint eine gedankliche Verbindung mit dem unweit gelegenen Seveler Flurnamen Glat mitzuschwingen). Und dann, erstmals 1650, erscheint eben die V-Form (die sich damit als jung, als historisch «falsch» erweist): «viltur». Von da an kommt dieser neue Typ nun immer wieder vor, und schon 1693 wird er «verhochdeutscht» (etwas linkisch) geschrieben als auffell thur. Und bei 1750 Jfeltur tut sich wiederum Anlehnung an bekannte FĂ€lle wie Ifelgup, Ifelgiis, Iferschmut (mit vorangestelltem deutschem in) kund; diese Variante jedoch setzt sich hier nicht durch. Nein, die Verbindung mit uf blieb oben auf. Überhaupt ist das Auftreten der (historisch falschen!) Lautung auf V-/F- nur in Verbindung mit dieser PrĂ€position uf zu erklĂ€ren, indem die hĂ€ufige Verbindung /uf Galtur/ durch Anpassung neu zu /uf Feltur/ wurde; man spricht da von einem Assimilationsvorgang.

Auf der Fahrt von Buchs her durch das Quartier Feltur im nördlichen Dorfteil von Sevelen, gegen das Dorfzentrum hin. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Also: wir sind nun - rĂŒckwĂ€rtsblickend - bei einer Ă€lteren Form Galtur angelangt, und so können wir an die Nachzeichnung der bisherigen ErklĂ€rungen gehen.

David Heinrich Hilty beschrĂ€nkt sich 1890 bei Viltur (V’ltur) auf die GelĂ€ndebeschreibung: Unterer, nördlicher Teil des Dorfes Sevelen, eben und feucht.

Theodor Schlatter (1903) vermutet in Veltur ein romanisches val dadoura â€˜Ă€usseres Tal’ (ĂŒber eine Mittelform valladura). Der Ansatz ist gĂ€nzlich verfehlt; der Autor kannte die Ă€lteren Urkundformen nicht, ging daher von falschen Voraussetzungen aus.

Heinrich Gabathuler, der Seveler Dorfarzt, war da etwas besser informiert; er zitiert eine Reihe Ă€lterer Formen, unter ihnen Filtur und auch Galthur. Die F-Form stellt er 1928 zu einem erfundenen *falaturum («zum indogermanischen Stamm fal-, fel- ‘breit sein’»), 1944 dann zu einem ebenfalls bloss konstruierten «lat. *vallaturum oder vallatorium ‘Talschaft’». Beide Versuche sind haltlose Konstrukte und daher nicht in Betracht zu ziehen. Zur Form †Galthur dagegen schreibt er richtig, dass sie «auch an lat. cultura ‘bebautes Land’» denken lasse.

Die Bushaltestelle im Quartier. Die Schreibung mit V- ist zwar zu beanstanden, jedoch heute offiziell gĂŒltig. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Mit dieser Bemerkung Gabathulers war eigentlich das RÀtsel gelöst, denn tatsÀchlich hiess Feltur (Veltur) Àlter Galtur (und zwar durchaus auch noch nach dem romanisch-deutschen Sprachwechsel).

Und dieses Galtur beruht auf altromanisch cultĂŒra (< lat. cultura ‘Bebauung, Bestellung’, daraus ‘Kulturland’). Der Name bezeichnet eine Örtlichkeit am (einstigen) nördlichen Dorfrand, die von den Bewohnern als Feldflur, als Ackerland intensiv genutzt wurde. Sicherlich war es sowohl auf der inneren Seite als auch nach aussen, gegen das als Allmend genutzte «Riet» hin, sorgfĂ€ltig eingezĂ€unt.

AuffĂ€llig ist fĂŒr den Romanisten noch ein Umstand, der die lautliche Entwicklung der lateinischen Endung -ura betrifft. Wie die heutigen romanischen Wortformen engadinisch cuttĂŒra und surselvisch cultira ‘angebautes Land, Feld, Flur’ bezeugen, ist das lange lat. -u- im Romanischen zu -ĂŒ- (und dann teils zu -i-) gehoben worden. Also ist anzunehmen, dass im Romanischen von Sevelen der Name zunĂ€chst CultĂŒra hiess, das dann (mit der Verdeutschung) zu †GaltĂŒr(a) und dann zu †Galtur wurde (die restliche Entwicklung wurde oben nachgezeichnet). Derselben Herkunft ist ja auch der tirolische Dorfname GaltĂŒr im Paznauntal (das man vom Montafon aus auf der Silvretta-Hochalpenstrasse ĂŒber die Bielerhöhe erreicht).

Nun ist im Fall von †Galtur in Sevelen die Lautstufe auf -ĂŒr urkundlich nicht mehr nachweisbar: die (freilich nicht sehr alten) Belege zeigen von Anfang an nur -ur, und diese RĂŒckentwicklung von ĂŒ zu u geschah zweifellos unter deutschem Einfluss. Dass aber auch in Sevelen †GaltĂŒr(a) ursprĂŒnglich existiert haben wird, dafĂŒr haben wir einen anderen Kronzeugen in derselben Gemeinde, nĂ€mlich den Namen des Weidegebiets IngglasĂŒr im SĂŒden der Alp Inarin; dieser beruht auf lat. clausura, altromanisch clasĂŒra ‘UmzĂ€unung, Einfang’, hat also dieselbe lat. Endung, aber diesmal wieder mit erhaltenem altromanischem â€‘ĂŒ-. 

Damit ist der Fall Feltur alias †Galtur eigentlich erledigt.  

NordwÀrts stösst Feltur an das Rietli. Hier befinden wir uns offensichtlich an der Nahtstelle der beiden Gebietsnamen. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Eine Nachbemerkung sei noch angefĂŒgt. Zwar ist die heutige Form Feltur/Veltur ja (gegenĂŒber †Galtur) historisch «falsch», heute aber allgemein anerkannt - und darum auf ihre Art auch wieder «richtig»! Namen können sich im Lauf ihrer Geschichte so verĂ€ndern, dass sie einen eigentlichen Bruch in der Überlieferung bewirken. In solchen FĂ€llen lĂ€sst sich die Frage nach der «Richtigkeit» eines Namens gar nicht mehr so eindeutig beantworten – jedenfalls nicht ein fĂŒr allemal. Das hĂ€ngt damit zusammen, wofĂŒr ein Ortsname im Alltag in erster Linie gebraucht wird.

Die kommunikative Hauptfunktion des Ortsnamens innerhalb einer Sprechergemeinschaft besteht ja darin, eine eindeutige, feste, also bleibende Verbindung zwischen einem Ort und dessen Namen auszudrĂŒcken. Man hört den Namen, man ist ortskundig und weiss daher sogleich, welcher Ort gemeint ist. Der Namenschatz einer Sprechergemeinschaft ist eine Art Übereinkunft, in die jedes Gruppenmitglied hineinwĂ€chst, und dieses System funktioniert dank seiner StabilitĂ€t. Diese besteht aber nicht «auf ewig»: Wie bei allem Irdischen, sind auch hier VerĂ€nderungen vorprogrammiert.

Die Sprache als Ganzes verÀndert sich ja im Lauf der Zeit, in kleinen, meist unmerklichen Schritten. Mit den gesellschaftlichen und technischen VerÀnderungen entstehen neue Begriffe, andere geraten in Vergessenheit. Wörter verÀndern also ihren Stellenwert oder verschwinden, neue kommen auf, Wortformen und Bedeutungen verschieben sich. Was wir im Alltag kaum wahrnehmen, ist, aus der NÀhe betrachtet, ein unablÀssig weiterlaufender Prozess; das VerhÀltnis zwischen Sprachform und Bedeutungsinhalt ist in dauernder Bewegung.

Das Sprachsystem ist also einerseits auf VerlÀsslichkeit in einer jeweiligen Gegenwart angewiesen, unterliegt aber anderseits einem stÀndigen Hang zum «Systembruch». Das heisst: Das System gilt grundsÀtzlich nur in der Gleichzeitigkeit; auf der Zeitachse muss es sich daher immer neu einpendeln.

Auch die Namenformen folgen diesem Hang zur VerĂ€nderung. Auch sie nĂŒtzen sich ab, entfernen sich vom Ursprung, entwickeln sich weiter. Als im 17. Jahrhundert statt dem herkömmlichen «uf Galtur» jemand neu (und zunĂ€chst irrtĂŒmlich) «auf Feltur» sagte oder schrieb, geschah es, dass sich die Sprechergemeinschaft nach und nach an die neu aufkommende Form gewöhnte, sie ĂŒbernahm und †Galtur vergass. Die eine Form ersetzte die andere, die gedankliche Verbindung zum benannten Ort bestand weiter, das System blieb im Gleichgewicht.

Trotz dieser Verschiebungen hat sich die «FunktionsfĂ€higkeit» des Namens Galtur/Feltur nicht verĂ€ndert. Er fungierte als Ortsweiser auch in seiner «verfĂ€lschten» Form problemlos weiter. Denn mit dem Übergang vom Wort zum Namen hatte er eine neue Aufgabe ĂŒbernommen. Nicht was er (als Wort) bedeutet, muss uns ein Name sagen, sondern auf welche Örtlichkeit er verweist. Ein Name muss also gar nicht «verstanden» – er muss «gekannt» werden: die Sprechergemeinschaft muss sich einfach darĂŒber einig sein, dass der Name XX den Ort YY bezeichnet. Insofern ist heute die Namensform Feltur durchaus auch wieder «richtig»! Und auch die Schreibform Veltur tut insofern ihren Dienst - auch wenn es eigentlich keinen ĂŒberzeugenden Grund dafĂŒr gibt, den Namen mit «V-» zu schreiben, da eben das gesprochene «F-» aus der Verbindung mit deutsch «uf» stammt.

Was dagegen mit dem Verlust der ursprĂŒnglichen Lautgestalt zerrissen wurde, war der Draht zum sprachlichen Ursprung, zur «Ur-Bedeutung» (zur Etymologie) des entstellten Namens. Hier hat die Forschung einzugreifen; sie muss versuchen, die verschĂŒtteten Pfade wieder offenzulegen.

Das war die Hauptaufgabe, die sich das Werdenberger Namenbuch fĂŒr die ĂŒber 12'700 Namen in den sechs Gemeinden gestellt hatte.

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