«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Iskafols

(Gams)

Diesen eigenartigen Namen (man liest daneben auch Isgafols) trĂ€gt ein Gebiet im sĂŒdlichen Dorfteil, unweit hinter der Simmi. Heute ist es ein Wohnquartier; die paar HĂ€user liegen an der Grabserstrasse, angrenzend sĂŒdwĂ€rts stösst Iskafols an Wide und RĂ€ppene, abwĂ€rts an das MĂ€tteli, nordseitig an Churzbreite und Matte, aufwĂ€rts an BĂŒtz. Die Aussprache des Namens war Ă€lter «Ischgefols» (mit Betonung auf dem -o-); neuerdings hört man auch «Iska-» oder «Isga-», was jedenfalls von der Schreibform beeinflusst ist. Die Bezeichnung ist alt und offensichtlich nicht deutsch; sie erscheint bereits im Gamser Gangbrief von 1462 als «ÿschgifals» und «ÿschgafals».

Iskafols am sĂŒdlichen Dorfeingang von Gams, an der Landstrasse, die von Grabs her kommt. Da das ganze Gebiet mittlerweile mehr oder weniger dicht ĂŒberbaut ist, kann man sich kaum mehr eine Vorstellung machen von den OrtsverhĂ€ltnissen frĂŒherer Jahrhunderte. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Im erwĂ€hnten Gangbrief heisst es auf S. 12: «  vnd die Schöben von iren Guöttern Ćžschgifals vnd von Gardis vnd die Widen Guötter jn Gardis vnd Jos Wesiner vnd Michil Löwiner sond [= sollen] och die Hurd helffen hencken von Ćžschgafals vnd sond die Hurden ze Sant Jörgen Tag gehenckt han».

Was hier manch einem Leser nicht auf Anhieb verstÀndlich sein wird, sei als kleiner Exkurs gleich kurz erlÀutert: Noch im Mittelalter waren ausgedehnte BodenflÀchen nicht in privater Hand, sondern waren Eigentum der Gesamtgemeinde und wurden kollektiv genutzt; die Privatisierung des vormaligen Allmendlandes kam erst um 1800 in Gang (man lese dazu im informativen Buch von Jakob Gabathuler, «Das Lebensbild des Markus Vetsch von Grabs», St.Gallen 1981, etwa auf den Seiten 37f. und 87ff.).

Seit jeher waren unsere Dörfer durch einen festen Zaun oder Hag vom umgebenden Kulturland abgegrenzt, und ebenso waren die KulturflĂ€chen gegen die Allmend (also das allgemeine Weideland) hin abgezĂ€unt. Man kann dies in Grabs noch an mehreren Namen mit «-zun» erkennen, in Grenzbereichen, wo Dorf auf Kulturland, Privatland auf Allmend stiess, wo also FlĂ€chen von einander abgegrenzt waren, fĂŒr die unterschiedliche Rechtsnormen (hinsichtlich Nutzung, Betretenwerden, Durchfahrt) galten. Im nördlichen Dorfteil von Grabs, an der Landstrasse gegen Gams hin, zeugt der Name Feldgatter davon, dass hier der Grenzzaun verlief, der den Dorfbereich vom umgebenden Ackerland, dem «Feld», abteilte, und dass eben hier im Zaun eine Durchfahrt war. Ähnlich wird im untersten Dorfbereich von Grabs, beim Rietzun, ersichtlich, dass dort sich Dorf und «Riet» berĂŒhrten, und dass hier der Grenzzaun verhinderte, dass das auf der Allmend (dem «Riet») frei laufende Weidevieh sich ins Dorf herein verlief. Entsprechend gab es auch in Gams den †Rietzun unter dem Dorf durch. An solche ÜbergĂ€nge zwischen zwei unterschiedlichen Nutzungszonen erinnern in Grabs die (oft abgegangenen) Namen †Gakleinazun, †Gristzun, Gristgatter, Under Gatter, Ober Gatter, †StĂŒtlizun, †Underdorfzun, †Werdenzun. Die DurchgĂ€nge, die aus dem Dorf hinaus auf die Äcker fĂŒhrten, wurden mit Gattern verschlossen, und diese mussten, wĂ€hrend die Saaten reiften, zum Schutz vor unbefugtem Betretenwerden auch geschlossen bleiben.

In Gams erscheinen diese Gatter (im Gangbrief von 1462) unter der Bezeichnung «Hurd», was eigentlich ein ‘Flechtwerk aus Ruten’ meint; damals waren ja auch die ZĂ€une selber oft aus Ruten geflochtene WĂ€nde. Es war hier etwa von den «Hueb Hurden» die Rede, also wohl den Gattern im Dorfzaun gegen die Hueb hin (Gangbrief S. 10), und von diesen ZaunverschlĂŒssen erfĂ€hrt man dabei: «  und sol allwegends alda hangen die wil das Veld Frid sol haben». Der alte Rechtsbegriff «Frid haben», «in Frid liegen» betrifft die Sicherung kultivierter GrundstĂŒcke gegen SchĂ€digung durch Vieh; der Fridhag war eine schĂŒtzende Einfriedung, bestehend aus Zaun, Hecke oder Mauer. Man erfĂ€hrt im Gamser Gangbrief weiter auch, wie breit die Hurd, also der Durchgang im Zaun sein musste: «  vnd sol die Hurd nĂŒn Schuech wit sin» (also etwa 2.70 m). Offensichtlich wurden diese Gatter geschlossen durch «EinhĂ€ngen» und geöffnet durch Wegheben und Beiseitestellen, darum auch heisst es im obigen Zitat von 1462, dass bei Iskafols die Hurd «gehĂ€ngt» werden solle, und dass die Hurden spĂ€testens ab dem Santjörgen-Tag (Tag des hl. Georg, 23. April) zum Schutz der Kulturen eingehĂ€ngt sein mussten. Der Zaun war also «die sichtbare Erscheinung und Aufrechterhaltung des Rechtszustandes, angewandt auf die Ă€ltesten BesitzverhĂ€ltnisse von Grund und Boden, resp. den Unterschied von Privateigentum und Gemeindegut» (Id. 1, 1281 s. v. Frid).

Dass wir uns im Gebiet Iskafols in der NĂ€he eines Übergangs, einer Kulturgrenze befinden, lassen schon einige der umgebenden Namen vermuten: im SĂŒden die RĂ€ppene, die als alter Name der Simmi (wir werden ihn demnĂ€chst behandeln) auf den nahen Grenzbach verweist, aufwĂ€rts Wide und BĂŒtz, beide auf feuchtes, mit Weiden bewachsenes Land in WassernĂ€he bezogen, nordseitig dann wieder die nutzungsfreundliche Matte (‘ebene GrasflĂ€che, Heuwiese’), unten die flache Bleichi (Bleicherei, Wasenbleiche, Wiese, wo die neue Leinwand ausgelegt und so gebleicht wurde), dann das einstmals unruhige GelĂ€nde von BĂŒttels (auf Unebenheiten infolge von Geschiebeablagerungen hinweisend), schliesslich Weid und RietgĂ€tterli (beide bereits Zeugen der nahen Allmendweide).

Der Name Iskafols, der den Anlass zu diesen AusfĂŒhrungen bot, passt nun sinngemĂ€ss ganz in diesen Grenzbereich. Nach seinem eingangs erwĂ€hnten Erscheinen im Gamser Gangbrief von 1462 taucht er unseres Wissens erst 1788 wieder schriftlich auf, nĂ€mlich als Jschgelfolss, und dann wieder 1801 im Helvetischen Kataster als Jschgifols. Beiden Belegen sieht man die NĂ€he zur damals gesprochenen Form unschwer an. Gehen wir zunĂ€chst der Frage nach, welche Deutungswege die bisherige Literatur hier eingeschlagen hat!

Vom Parkplatz an der Gamserbergstrasse (beim Chrottensprung) aus blickt man auf die neuen Wohnquartiere BĂŒtz und Iskafols (Bildmitte) im sĂŒdlichen Teil von Gams. Weit im Hintergrund die Kirche von Bendern FL, links davon der Eschner Berg, rechts hinten der Eingang ins Walgau. Bild Werdenberger Namenbuch.

Allzu viel Verwertbares ist nicht vorhanden. HauptsĂ€chlich geht es um einen Versuch aus dem Jahr 1903 von Theodor Schlatter («St.Gallische romanische Ortsnamen und Verwandtes», Teil 1, S. 21). Bei ihm heisst der Ort «Iskaful, auch Isgaful gesprochen». Das «Is-» versteht er als mundartlich «ins» (= ‘in das’); der eigentliche Name sei Gaful, und das sei die Bezeichnung einer «uralten ZollstĂ€tte». Zur ErklĂ€rung seiner Auffassung verweist er auf das engad. gabella ‘Steuer, Abgabe; Zollhaus’, das seinerseits entlehnt ist aus ital. gabella ‘Steuer, Zoll’. Der Ausdruck war in der mittelalterlichen mediterranen Handelssprache aus arabisch qabāla ‘Abgabe, Kaution’ ins Italienische gelangt; in der hiesigen altromanischen Bauernsprache aber war er nicht volkstĂŒmlich, scheidet also wohl schon deshalb hier zweifellos aus. Schlatter mutmasste daneben noch einen Zusammenhang von Iskaful mit einem angeblich gleichlautenden Namen «im Bregenzerwald», an der Grenze zur Grafschaft Sonnenberg: wahrscheinlich meinte er Ischgavelsa in Fontanella (im Grossen Walsertal), der im ersten Teil unserem Namen in der Tat Ă€hnelt, dessen urkundliche Formen aber in eine andere Richtung weisen und damit doch nicht zu unserem Namen passen.

Valentin Vincenz gibt der NamenserklĂ€rung eine plausiblere Richtung, indem er auf Abkömmlinge von lat. cavus ‘hohl’, cavare ‘aushöhlen, aufwĂŒhlen’ zurĂŒckgreift; darauf beruht romanisch s-chavar ‘ausgraben’ (aus lat. *ex-cavare), auch in romanisch chafuol ‘tief’ steckt dieser Wortstamm, möglicherweise auch im Flurnamen Tgavugl in Andeer (aus lat. *cav-uculu?!). – Dies ist etwa das Wortmaterial, das unserem Iskafols zugrundeliegen dĂŒrfte. Die Details der Entwicklung sind allerdings nicht durchwegs ganz klar.

Man kann auf eine Wortableitung altromanisch scaval m. tippen, das etwa mit ‘Graben, Bachgraben’ zu ĂŒbersetzen wĂ€re und eine Stelle bezeichnen kann, wo die nahe Simmi das GelĂ€nde aufgewĂŒhlt hatte – man erinnere sich auch an den Namen Gula im Gamser Riet, der im selben Sachzusammenhang zu sehen ist, geht er doch auf romanisch gula f. ‘Kehle, Schlucht’ zurĂŒck, hier ebenfalls zu verstehen als ‘tiefer Bachgraben’, nĂ€mlich eine Stelle, wo die damals noch frei fliessende Simmi gewĂŒhlt hatte. Aus der romanischen Mehrzahl scavĂĄls wurde in deutschem Mund SchgavĂłls, und dies ergab schliesslich – echt werdenbergisch – IschgafĂłls, nĂ€mlich mit vorne angehĂ€ngtem I- (aus deutsch in), wie dies in vielen anderen romanischen Namen geschehen ist (etwa Ischlawiz in Grabs, Imalbun in Buchs, Inarin in Sevelen), dessen HintergrĂŒnde auf dieser Webseite (unter: https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/) nachgelesen werden können.

Der Fall Tgavugl in Andeer lĂ€sst nun aber auch fĂŒr Iskafols noch an einen anderen Entwicklungsgang denken (wobei aber dieser am Sinn der Bezeichnung nicht viel Ă€ndern wĂŒrde): Gleich wie dort könnte auch hier von romanisch chafuol adj. ‘tief’ ausgegangen werden; dann aber mĂŒsste in unserem Fall (zur ErklĂ€rung des ‑schg-!) zusĂ€tzlich noch Einmischung von altromanisch scaval m. ‘Bachgraben’ angenommen werden, sodass aus c(h)afuol dann ein scafuol geworden wĂ€re. Solche «Kreuzungen» von Worttypen kommen tatsĂ€chlich vor. Aber ob es sich hier wirklich so verhĂ€lt, das bleibt offen, ist blosse Vermutung.

Wichtig ist fĂŒr uns am Schluss, dass der Name Iskafols, wenn er ‘bei den BachgrĂ€ben’ heisst, einen Ort an der Grenze des Kulturlandes zur ungezĂ€hmten Natur bezeichnete und auf das Walten des ungezĂŒgelten Simmibachs Bezug nahm, der vor der sehr jungen Korrektur ja nicht einfach linear dahinfloss, sondern nach jedem Hochwasser sich streckenweise immer wieder ein anderes Bett suchen konnte, zwischen liegengebliebenen Schuttfeldern und -haufen tiefe GrĂ€ben auswĂŒhlend und in stets neuen Windungen seinen Weg sich selbstĂ€ndig bahnend. Lange waren die Bewohner unserer Dörfer den Launen der Natur recht hilflos ausgeliefert; auf jeden Fall war es stets ratsam, eine hinlĂ€ngliche Sicherheitszone zwischen dem Kulturland (und namentlich dem Siedlungsbereich) und den Bach- und RĂŒfezonen stehen zu lassen. Iskafols lag eben in dieser Grenzzone.

Unsere Generation hat dank umfassenden Verbauungen das einstige Gefahrenpotential seitens unserer BergbÀche (und des Talflusses) weitgehend vergessen. Auch hier kann unsere Namenwelt uns dann und wann eine Erinnerungshilfe bieten.

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