«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Räppene

(Gams)

Wer von Grabs herkommend in Gams einfĂ€hrt, sieht gleich nach dem Überqueren der Simmi rechts unter der Landstrasse und unmittelbar hinter dem Kiesfang das StĂŒck Wiesland, welches «in der RĂ€ppene» heisst. Der so benannte Ort sĂŒdlich des Dorfes Gams liegt am oberen Rand der Talebene, unterhalb des Gewerbegebiets Wide und oberhalb der Bleichi, hinter dem Simmilauf und vor dem MĂ€tteli. Eine RĂ€ppenen erscheint daneben auch in der Gemeinde Grabs, nĂ€mlich fĂŒr ein  gegen die Simmi abfallendes Streueried und Wald am hintersten Grabser Berg, oben im Simmitobel (auf 920-1000 m ĂŒ. M.), hinter Badweid und Cholschopf und unter dem Lettboden, von der Wildhauser Grenze nur noch durch das Bluetlosentobel getrennt.

Die beiden FĂ€lle sind wohl miteinander zu betrachten. AuffĂ€llig ist dabei, dass die zwei gleich benannten Örtlichkeiten hinsichtlich ihrer GelĂ€ndeformen denkbar verschieden sind. Daraus darf man wohl im voraus den Schluss ziehen, dass es jedenfalls nicht die GelĂ€ndegestalt ist, auf welche sich die Bezeichnung ursprĂŒnglich bezieht. Eine dritte, zumindest Ă€hnliche Benennung ist uns aus dem bĂŒndnerischen Rheinwald bekannt: nĂ€mlich RĂ€ppia in Hinterrhein, fĂŒr einen Allmendabschnitt auf dem Schuttkegel des RĂ€ppierbaches. Wir haben also hier eine mutmassliche Namengruppe vor uns, die wir nun als Ganzes im Auge behalten wollen, zunĂ€chst im Hinblick auf ihr urkundliches Erscheinen und dann auch auf eine allfĂ€llige gemeinsame ErklĂ€rung. Und noch ein weiterer Name wird hier eine zentrale Rolle spielen: der Dorfname Grabs.

Der Gamser Name tritt verhĂ€ltnismĂ€ssig spĂ€t, nĂ€mlich erst 1763 als RĂ€bbelen auf, im «Capitalbuch der FrĂŒhmesspfrund» (S. 27, im Archiv der Ortsgemeinde Gams), dann nochmals als RĂ€pelen im Helvetischen Kataster von 1801 (Folio 55). Zum Fall RĂ€ppia (Hinterrhein) ist uns nur ein urkundlicher Beleg bekannt: 1552 an rebyen. Die Grabser RĂ€ppenen, der zum Simmibach abfallende Hang, ist etwas besser dokumentiert: erstmals erscheint der Name 1463 (im Grabser Urbar, S. 3 und 7) «an die RĂŠppinen», «an der R.», 1488 dann «in die Rapellen». Im 18. und 19. Jahrhundert treten dann RĂ€penen und Rappelen nacheinander auf; das einzig Bemerkenswerte ist hier, dass sich im Bereich der Endung -enen und -elen abwechseln.

Blick vom Grabser Berg auf den östlichen Dorfteil von Gams, dahinter der Schlosswald bei Salez. Rechts unten der Simmilauf mit dem Kiesfang, nordseitig daneben (mit dem blauen Kreuzchen markiert) liegt das Wiesland RÀppene. Aufnahme vom 17. Januar 2024, 09:20 h. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Wenn wir nun nach örtlichen Gemeinsamkeiten zwischen diesen drei Namen suchen, so am ehesten diese, dass alle drei Orte an einem Bergbach liegen. Vielleicht liegt darin das sie verbindende Element, das sich dann auch fĂŒr die Deutung der Namengruppe heranziehen liesse.

Wie gewohnt wollen wir zunÀchst nachsehen, was die Àlteren Autoren zu dem Fall meinten. Es ist nicht viel. Andrea Schorta verzichtete 1964 im RÀtischen Namenbuch Bd. 2, 804, auf eine MeinungsÀusserung; er legte den Fall RÀppia (Hinterrhein) ohne weitere ErwÀgungen in dem umfangreichen Kapitel unter der Rubrik «Fragliches, Varia» ab. Noch Àltere DeutungsansÀtze liegen keine vor.

Das war die Situation, die sich mir um 1972 darbot, als ich im Rahmen meiner Dissertation an die Deutung der Grabser Flurnamen ging. Ich fand damals keine befriedigende ErklĂ€rung; der tastende Versuch mit romanisch grep m. ‘Fels’ in einer Verkleinerungsform *grĂ©ppel, wĂ€re zwar formal nicht unmöglich, indes – namentlich mit Blick auf die OrtsverhĂ€ltnisse bei RĂ€ppene in Gams – nun wirklich nicht plausibel. Auch die anderen von mir erwogenen AnsĂ€tze (ĂŒber die wir hier leicht hinweggehen können) waren mehr formale PflichtĂŒbungen, als dass ich selber sie fĂŒr wahrscheinlich gehalten hĂ€tte. Es gibt bekanntlich in jedem Namenbuch einen gewissen Prozentsatz von FĂ€llen, die sich nicht auf Anhieb lösen lassen und vorerst liegen bleiben – siehe oben Schortas RĂ€ppia 


Dann aber kommt es wieder vor, dass spĂ€ter – oft im Gefolge eines neu ins Blickfeld getretenen Ă€hnlichen Falles – dasselbe zuvor liegengelassene Problem wieder aufgegriffen und neu bewertet wird. Und auf einmal zeigt sich ein Deutungsweg, an den vorher nicht gedacht worden war und der, einmal gefunden, auf Anhieb ĂŒberzeugend wirken kann. So geht Forschung: jemand legt Grundlagen, andere bauen darauf weiter – Teamarbeit eben. Hier war es mein Doktorvater Gerold Hilty, der aufgrund der in meiner Dissertation geleisteten unfertigen Vorarbeiten einen wichtigen weiteren Schritt tat. Er war in meiner Arbeit auf die Grabser RĂ€ppenen aufmerksam geworden, und er verband diesen Fall nun mit seiner Neubewertung des Namens Grabs, eines ĂŒberaus verwickelten Deutungsproblems, zu welchem ich in meiner Doktorarbeit ebenfalls ausfĂŒhrlich Stellung bezogen hatte.

Dort war es kein Geringerer als der grosse ZĂŒrcher Romanist Prof. Jakob Jud (1882-1952), an den ich mich kritisch wagen, ja, mit dem ich mich sozusagen anlegen musste (was fĂŒr einen Dissertanten kein geringes Ansinnen war). Jud hatte unter anderem den monumentalen italienischen Sprachatlas AIS (Sprach- und Sachatlas Italiens und der SĂŒdschweiz) mit herausgegeben, und was er zur Sprachgeschichte und Sprachgeografie der viersprachigen Schweiz vorgelegt hat, gehört bis heute zu den Fundamenten der Schweizer Romanistik. Nun war es so, dass Jakob Jud 1939 auch zum Namen Grabs eine berĂŒhmte, lange als wegweisend geltende, von keiner Seite her angezweifelte Abhandlung geschrieben hatte (Jakob Jud, Zur Herkunft des Ortsnamens Grabs, in: MĂ©langes Charles Bally, Genf 1939, S. 303ff.). Im gedanklichen Nachvollzug von Juds Postulaten (die ich hier allerdings nicht ausbreiten kann) gelang es mir nun zu beweisen, dass hier des Meisters GedankenfĂŒhrung entscheidende SchwĂ€chen aufwies. Ich musste daher seine These, wonach Grabs auf lat. quadra abbatis ‘die Felder des Abtes’ zurĂŒckgehe, ablehnen. Dies lĂ€sst sich nachlesen in H. Stricker, Die romanischen Orts- und Flurnamen von Grabs, ZĂŒrich 1974, S. 102-108, wo meine Analyse mit dem Satz endete: «Wir kommen zum Schluss, dass Juds Etymologie [
] nicht aufrecht erhalten werden kann; gleichzeitig sehen wir uns aber ausserstande, ihr einen eigenen, besseren Vorschlag gegenĂŒberzustellen.» Ich selber habe mich in der Folge nicht weiter mit der Frage befasst, war doch fĂŒr mich nach dem Abschluss der Doktorarbeit dieser Themenkreis einstweilen abgeschlossen – ich hatte mich fortan voll meinen beruflichen Aufgaben zuzuwenden.

Gerold Hilty indessen liessen die angeschnittenen Fragen nicht ruhen. Er pflichtete meinem «RĂŒckbau» von Juds Argumenten zu Grabs allerdings bei, entwickelte nun aber in der Folge (1976) eine neue Deutung zum Namen Grabs. Diese war lautgeschichtlich ĂŒberzeugender und auch sachlich einleuchtender als alle bisherigen Versuche, und sie brachte – darauf will ich hier hinaus – auch Licht in unser Namenproblem RĂ€ppene(n). Im Aufsatz Romanisch-germanische Symbiose im Raum Grabs (im 120. Neujahrsblatt, herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St.Gallen, S. 30-43) lieferte Hilty dann 1980 nochmals eine gut lesbare Zusammenfassung seiner Thesen, in denen es nun wie gesagt neben Grabs auch um unser RĂ€ppene(n) geht, auf die ich hier verweisen darf.

Kurz gesagt handelt es sich um Folgendes: Im Namen Grabs, der um das Jahr 820 als Quaradaues, 841 als Quarauedes, 1235 als Grabdis bezeugt war, sah Hilty als Ursprungsform ein lat. caput rapidae (bzw. caput rapidas), das ĂŒber altromanisch *cau ravede(s) zu *caravede(s) und ĂŒber *Cravdes > Grabdis zu unserem Grabs fĂŒhrte – das ist formal unanfechtbar. Und was bedeutet das? Lat. caput heisst ‘Kopf, Haupt’, ‘Kopfteil’, auch ‘Anfang’. Lat. rapidus (rapida) heisst ‘reissend, wild’, ‘sich schnell bewegend’, und namentlich auf einen Bergbach bezogen ‘der reissend schnell Fliessende’. Die Zusammensetzung caput rapidas als Ortsname kann also heissen ‘[die Siedlung] beim Anfang des reissenden Baches’.

Grabs ist als Siedlung sehr alt. Die Grabser Pfarrei, deren Kirche unter dem seltenen Patrozinium des hl. BartholomĂ€us stand, ist nach dem Urteil der Kirchenhistoriker eine einheimische rĂ€tische KirchengrĂŒndung des 6. Jahrhunderts. Sie wird in der ganzen Region altersmĂ€ssig nur noch ĂŒbertroffen von der ersten Peterskirche von Schaan aus dem 5./6 Jahrhundert. Direkt bezeugt ist fĂŒr Grabs die Existenz eines Dorfes, ja sogar schon einer christlichen Gemeinde, zur Zeit des heiligen Gallus anfangs des 7. Jahrhunderts: GemĂ€ss der Lebensbeschreibung von Gallus verweilte der Glaubensbote auf seiner Flucht vor dem Herzog von Überlingen (und auf dem Weg nach Italien) wĂ€hrend lĂ€ngerer Zeit als Gast des Grabser Diakons Johannes (der spĂ€ter dann Bischof von Konstanz wurde). Nachdem er sich in Grabs zur RĂŒckkehr in das begonnene Missionswerk am Bodensee hatte bewegen lassen, ging er an die Steinach, wo er darauf seine Klause errichtete, und aus dieser erstand dann das Kloster St.Gallen.

Das tief eingeschnittene Simmitobel scheidet den Grabser Berg (links) vom Gamser Berg. Im Lauf der Jahrtausende hat die Simmi einen betrÀchtlichen SchuttfÀcher am Ausgang des Tobels gebildet. Die HÀusergruppe unter der Bildmitte heisst zutreffend bi der Grenze - dort stossen die Gemeindeterritorien von Grabs und Gams zusammen. Rechts aussen der Kiesfang der Simmi, nördlich anschliessend das Wiesland namens RÀppene. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Gams ist als Ortschaft jĂŒnger als Grabs: Die Ă€lteste Nennung von Gams aus dem Jahr 835 («in fundo Campesias», das heisst: ‘im Gut namens Campesias’) bezieht sich offensichtlich noch nicht auf ein Dorf, sondern erst auf ein Gut und Weidegebiet (denn in Campesias steckt altromanisch *camp bieschas ‘Schafweide’).

Warum hier diese Feststellung?  Sie ist wichtig im Zusammenhang mit der Frage, welcher Bach gemeint sei, wenn Grabs als die «Siedlung beim Anfang des reissenden Baches» gedeutet wird. «Bergbach bei Grabs» – da denkt man doch in erster Linie an den Grabser Bach: Dieser mĂŒndet ja genau im Dorfbereich aus dem Tobel in die Talebene!

Gerold Hilty beschritt nun einen anderen Weg. Er folgerte weiter: Wenn der Ortsname Grabs wirklich auf caput rapida(s) zurĂŒckgeht, dann könnte mit dem besagten reissenden Bach auch die Simmi gemeint sein, also der Grenzbach im Tobel zwischen den Gemeindegebieten von Grabs und Gams, der von Wildhaus herunterkommt. Dann wĂ€re Rapida der alte Name dieses Bergbaches. Als Bezeichnung von reissenden FlĂŒssen, von Stromschnellen ist Rapida fĂŒr die römische Schweiz durchaus belegt. In einer lateinischen Inschrift von 371 n. Chr. wird der «Kleine Laufen» (eine Stromschnelle im Hochrhein oberhalb von Koblenz AG) als Summa Rapida bezeichnet, und eine Stelle des dort schnell fliessenden Tessinflusses (zwischen Corduno und Carasso) hiess la rĂĄvia dal Tesin. Auch aus Osteuropa kennen wir FlĂŒsse, die lat. rapida, rumĂ€nisch repede (‘schnell’) im Namen fĂŒhren, wie etwa die Schnelle Kreisch, rumĂ€nisch CriƟul Repede, ungarisch (gleichbedeutend) Sebes-Körös, die durch die Stadt Oradea (Grosswardein, NagyvĂĄrad) im NW RumĂ€niens fliesst.

Wie lĂ€sst es sich nun begrĂŒnden, dass mit dem besagten reissenden Bach die Simmi gemeint sein könnte – wo diese doch nicht direkt bei Grabs (wie der Grabser Bach), sondern erst am Nordrand des Grabser Bergs die Ebene erreicht? Hier muss man die VerhĂ€ltnisse vor anderthalb Jahrtausenden bedenken: Weil damals Gams noch gar nicht existierte, war Grabs tatsĂ€chlich das zunĂ€chst bei der Simmi gelegene Dorf. Auch könnte man argumentieren, die Simmi sei (anders als der Grabser Bach) mehr als ein rein lokaler Bachlauf und hĂ€tte wohl stets einen weiter reichenden Bekanntheitsgrad gehabt: Immerhin fĂŒhrte ihrem Tobel entlang eine Wegverbindung vom Rheintal ins Thurtal (und weiter zum ZĂŒrichsee), die sicherlich als Transitroute uralt war, auch wenn umgekehrt das obere Toggenburg erst im Lauf des Mittelalters besiedelt worden ist. Jedenfalls kann man wohl schon die Ansicht vertreten, Grabs habe in der FrĂŒhzeit als das Dorf gegolten, in dessen NĂ€he der Bach namens Rapida die Ebene erreichte.

Ganz anders die örtlichen VerhĂ€ltnisse im oberen Simmitobel. Blick vom Wildhauser Schönenboden auf die bewaldete, feucht-abschĂŒssige Nordflanke des Grabser Bergs. Links der Bildmitte vertikal das unwirtliche Bluetlosentobel (Grenze zur Gemeinde Wildhaus). Die Grabser RĂ€ppenen liegt "irgendwo" weit unten am linken Bildrand. Was sie mit der Gamser RĂ€ppene verbindet, ist nebst dem Namen nur die NĂ€he zur Simmi. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Nun noch zur lautlichen Weiterentwicklung von lat. rapida. Diese verlief regelmĂ€ssig: ZunĂ€chst folgte eine frĂŒhromanische Form, die als *rabja anzunehmen ist (daneben ist freilich das -d- von rapida auch in 1235 in Grabdis noch vorhanden, was auf eine zweigleisige Entwicklung von Wort und Ortsname im zweisprachigen Raum hindeutet). Dieses *rabja wurde mit dem Sprachwechsel dann in deutschem Mund – ebenfalls normal – zu alemannisch *RĂ€ppe, das wohl auch damals noch ein Sachwort war und ‘reissender Bach’ oder ‘reissende Stelle im Bach’ bedeutete.

Damit kommen wir vom Fall Grabs nun auch wieder zu unserem RĂ€ppene(n)-Namentyp - zweimal unweit der Simmi - zurĂŒck. Es trat offenbar die Situation ein, dass der alte Bachname Rapida (*RĂ€ppe) durch die Bezeichnung Simmi ersetzt wurde. G. Hilty sieht dabei den Gamser und die Grabser Gebietsnamen RĂ€ppene(n) als die letzten in der Landschaft erhaltenen Überbleibsel des alten Bachnamens *RĂ€ppe. Sollte jemand an der Möglichkeit solcher NamensĂŒbertragungen vom Bach auf einzelne Abschnitte des umliegende GelĂ€ndes zweifeln, dann genĂŒgt ein Hinweis auf den Röllbach (die Röll) in Sevelen und Buchs, dessen Name sekundĂ€r ebenfalls auf am Bach gelegene Gebiete ĂŒberging: Röll heissen bekanntlich auch ein Gut am Seveler Hinderberg sowie eine FlĂ€che Wieslandes zwischen RĂ€fis und Buchs. Der Vorgang lĂ€sst sich also belegen: ganz gleich, wie es am Röllbach geschah, kann also auch entlang des Bachlaufs der Simmi alias *RĂ€ppe der Name RĂ€ppene(n) zweimal an Örtlichkeiten hĂ€ngen geblieben sein.

Blick ĂŒber den Simmi-Kiesfang auf das Wiesland namens RĂ€ppene. Dahinter die HĂ€user von Iskafols, und ĂŒber diesen die Gamser Pfarrkirche. Die Aufnahme entstand am 31. Januar 2024, um 15:30 Uhr. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Zwei Fragen bleiben nun noch zu erörtern:

1) Wie verhÀlt sich der Gebietsname RÀppene(n) formal zum Bachnamen *RÀppe?

2) Wenn lat. Rapida bzw. altromanisch *Rabja bzw. alemannisch *RĂ€ppe der alte Bachname war – warum soll dieser dann durch die Bezeichnung Simmi ersetzt worden sein? Und wenn dies ja der Fall war – muss in Simmi dann ein junger, neu gebildeter Name gesehen werden? Oder kann Simmi selber ebenfalls alt sein? Man weiss ja, dass der Name Simmi lange als vorrömisch angenommen wurde; dann wĂ€re er ja selber sehr alt (Ă€lter gar als lat. Rapida).

Zur ersten Frage: Wir erinnern uns an die eingangs gemachte Feststellung, dass 1463 der Name als RĂŠppinen, 1488 dann als Rapellen bezeugt war. Wir haben also gemĂ€ss diesen Formen einmal die mundartliche Endung -enen vor uns, und einmal -elen. Das eine ist die (einstige) Dativ-Mehrzahlendung -enen (die uns begegnet bei Wörtern wie ChĂ€lbli : ChĂ€lblenen), das andere die oft fĂŒr Stellenbezeichnungen verwendete Endung -ele (so etwa auch im Mundartwort HĂ€ngele f. ‘frei hangendes Gestell im Keller zur Aufbewahrung von Brot usw.’, oder mundartl. WĂ€ntele f. ‘Wanze’, ’flache Trinkflasche fĂŒr Schnaps’). Welche von beiden hier wahrscheinlicher als die ursprĂŒngliche zu betrachten sei, braucht hier nicht entschieden zu werden; denn nicht nur sind beide formal in Ordnung; auch bedeutungsmĂ€ssig machen sie hier praktisch keinen Unterschied: das eine als Flexionsform «bei den RĂ€ppenen» (also: ‘bei den reissenden Stellen im Bach’), das andere als «RĂ€ppele» (verstanden als ‘Ort mit Stromschnellen’).

Zur zweiten Frage: Wie lĂ€sst sich der behauptete Ersatz des alten Namens *Rabja/RĂ€ppe durch Simmi erklĂ€ren? Und ist Simmi (Ă€lter auch SĂŒmmi gesprochen) wirklich, wie man allgemein annahm, ein vorrömischer Name? Dazu will ich an dieser Stelle nicht mehr weit ausholen. Die Frage ist bis heute umstritten. Es gibt mögliche ParallelfĂ€lle: Man denkt an die Simme im Berner Oberland: sie wurde als gallisch gedeutet. Andere erinnern an die Samina (die in Liechtenstein entspringt und unterhalb Frastanz in die Ill mĂŒndet): auch sie wurde als vorrömisch erklĂ€rt. Daneben wurde nun aber fĂŒr Simmi auch deutsche Herkunft erwogen (Verwandtschaft mit dem alten Wort Seim ‘dickflĂŒssiger Saft‘ («Honigseim»). Doch all diesen Herkunftsproblemen können wir hier nicht weiter nachgehen, da ihre Abhandlung erstens sehr fachspezifisch ist und zweitens auch kein verlĂ€ssliches Ergebnis erbringt.

So liesse sich denn auf zwei Wegen argumentieren, dass der Ausdruck Simmi an die Stelle von *RĂ€ppe getreten sein könnte: Entweder weil Simmi als junger, germanisch-deutscher Name spĂ€ter aufgekommen wĂ€re und als Neubildung den lateinischen Namen abgelöst hĂ€tte. Oder aber, fĂŒr den Fall, dass Simmi als Name ebenfalls schon frĂŒh existiert hĂ€tte: dass dieser ursprĂŒnglich vielleicht dem Tobelgebiet als Ganzem gegolten hĂ€tte (im Sinn von 'feuchtes Gebiet, wo Wasser rinnt'), wĂ€hrend Rapida sich nur auf den eigentlichen Bach bezogen hĂ€tte. Oder allenfalls auch, dass der Name Rapida eher dem Wildbach im Berggebiet eignete, wĂ€hrend Simmi zunĂ€chst mehr im Talgebiet galt, also erst von der Gamser RĂ€ppene an bis hinunter zum damaligen wilden Rhein, auf der Höhe von Salez-Ruggell. Dann wĂ€re (so Hilty) Simmi allenfalls gar verwandt mit dem Wortstamm, der in Sennwald, silva Sennia, steckt (?).

Doch damit befinden wir uns bereits wieder auf sehr unsicherem GelĂ€nde – wir wollen hier also innehalten. Der Fall bietet neben seinem inhaltlichen Interesse auch ein Paradebeispiel dafĂŒr, wie sich die sprachlichen Probleme und die Suche nach deren Lösung ĂŒberkreuzen mit oft unerwarteten weiteren FĂ€llen, mit denen sie verzahnt sind, so dass man kaum ein einzelnes Fallbeispiel behandeln kann, ohne sich auch mit vielen weiteren, oft scheinbar nicht zusammenhĂ€ngenden Fragen befassen zu mĂŒssen. Und dann bewegt man sich eben oft genug auch wieder am Rande des Spekulativen. So erinnert Namenforschung, Sprachforschung nicht selten auch an Detektivarbeit.

Nachbemerkung:

Am 4. Februar 2024 können wir noch folgende ErlĂ€uterung hinzufĂŒgen:

Ein aufmerksamer Leser meiner Rubrik, MathĂ€us Lippuner, Grabs, alt OrtsprĂ€sident und alt Archivar, fragt mich zum Namen RĂ€ppene: «Kann es sein, dass dieser Name ursprĂŒnglich ein noch grösseres Gebiet umfasste?» Er hatte nĂ€mlich gehört, dass fĂŒr die frĂŒheren Bewohner des heutigen Heimets «a dr Grenze» der Zuname «RĂ€ppeni» (Mehrzahl!) verwendet wurde. Und er fĂ€hrt fort, sein ehemaliger Ratskollege Florian Vetsch, genannt «dr Grenze Fluri», wohnhaft eben im Weiler Grenze unweit sĂŒdlich der Simmi, hĂ€tte ihm einmal berichtet, dass bis nach der Simmikorrektion (anfangs des 20. Jahrhunderts) dort kein Haus gestanden habe, da dies wegen der hĂ€ufigen  Überschwemmungen zu unsicher gewesen wĂ€re. Erst sein Grossvater habe nach der Simmisanierung «in der RĂ€ppene» (!) Haus und Stall erstellen lassen, welche dann seither «a dr Grenze» genannt worden seien. - Das weckte in mir nun wieder die Erinnerung, dass meine Mutter (die mit der besagten Familie Vetsch verwandt war) oft von einem «RĂ€ppene Fluri» sprach (offenbar der, welcher nachmals dann «dr Grenze Fluri» genannt wurde). Mit der Nennung dieser Person bezog sie sich zweifellos auf ein Mitglied der ihr verwandten Familie, wohl auf den Erbauer des Hauses selber, allenfalls auf einen Sohn.

Damit steht tatsĂ€chlich fest, dass der Name RĂ€ppene sich hier ursprĂŒnglich auf ein weit grösseres Gebiet bezog, und zwar eine Zone beidseits des heutigen Simmilaufes: also auch sĂŒdseitig des Baches (oberhalb von Rufers) die Zonen Wolfhag, BrĂ€gglisfeld und Grenze. Die Bezeichnung galt eben fĂŒr die ganze Breite des SchuttfĂ€chers, wo die Simmi (oder Ă€lter *RĂ€ppe) frĂŒher ausbrechen konnte und deren Streugebiet offensichtlich kollektiv als «in den RĂ€ppenen» bezeichnet wurde.

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