«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Schalmenlitte

(Grabs)

So heisst ein steiles Heimwesen am mittleren Grabser Berg, hinter dem Weiler Schluss und dem Hinderen Schlussbach, direkt über der Strasse und unweit über dem steinernen Bogenbrücklein, genannt Schlussbrugg, wo die alten Gassen am Berg von allen Seiten zusammenlaufen. Über dem Gehöft steigt steil eine Hügelflanke (genannt «der Müller») hinauf gegen die flache und daher dichter bebaute Geländeterrasse auf dem Lehn. Im Namen «in der Schalmenlitte» steckt, wie man sieht, das weibliche Wort «die Litte», das als Geländename auch mehrfach (allein und in weiteren Verbindungen) in der Gemeinde vorkommt.

Wirklich alte urkundliche Nennungen dieses Namens, die uns zu dessen Ursprung führen könnten, besitzen wir nicht. Erstmals taucht er 1736 auf als Schalmaliten in einem Schuldprotokoll, das die Jahre 1733 bis 1758 umfasst und im Gemeindearchiv in Grabs liegt. Aufschlussreich ist diese Form freilich nicht, ebensowenig die spärlich nachfolgenden, worunter die «verhochdeutschte» Variante Schalmaleiten im Helvetischen Kataster von 1801. Vielmehr entsprechen sie alle durchaus der heutigen Sprechform des Namens.

Das Haus Schalmenlitte, darüber der Steilhang namens «Müller» mit einem in prekäre Schieflage geratenen Stallgebäude. Im Hintergrund links der Weiler Schluss mit dem alten Schulhaus. Darüber der Margelchopf und der Cher auf Gampernei. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Auch wenn uns die alten Schriften hier nicht weiterhelfen, so sind wir noch nicht am Ende unseres Lateins, da uns die beiden Elemente des zusammengesetzten Namens auch anderweitig nicht unbekannt sind. Wir wollen sie nacheinander besprechen – fangen wir mit dem zweiten Teil an:

«Litte» («die Litte», daneben auch: «das Litt») ist ein altes deutsches Wort; es bedeutet ‘(steiler) Berghang’. Heute ist der Ausdruck im Schweizerdeutschen (auch bei uns) unbekannt, er gehörte aber offensichtlich in älterer Zeit zum Wortschatz unserer Mundart. Denn nur so erklärt es sich, dass er auch in zahlreiche Geländenamen eingegangen und dort noch in Gebrauch ist. Doch muss er als Wort schon sehr lange ausgestorben sein, denn er figuriert nicht einmal mehr im «Schweizerischen Idiotikon» (d. h. im «Wörterbuch der Schweizerdeutschen Sprache», das seit 1881 in Teillieferungen erscheint und wo derzeit der 17. Band in Bearbeitung ist). Dieses gigantische Forschungsunternehmen (online abrufbar unter www.idiotikon.ch) behandelt den schweizerdeutschen Wortschatz seit dem Ende der klassischen mittelhochdeutschen Periode im 13. Jahrhundert und bis zur Gegenwart. Wenn also ein Eintrag Litte dort (an seinem Ort im 3. Band, 1895) nicht zu finden ist, bedeutet das wahrscheinlich, dass im Spätmittelalter das Wort in der deutschen Schweiz bereits nicht mehr dem aktiven Wortschatz angehörte und deshalb nicht mehr ins Wörterbuch gelangte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Worttyp Litte oder Lîte in der Namenwelt Graubündens (das ja grosso modo erst nach dieser Zeit verdeutscht wurde) gar nicht (mehr) vorkommt.

Schalmenlitte und der Rain (oder eben: «die Litte») namens «Müller» von Süden her gesehen. Im Hintergrund die südliche Alpsteinkette von Mutschen (links oben) bis Stoberenfirst und Chele (rechts aussen). Bild: Werdenberger Namenbuch.

Wohl aber treffen wir ihn weiter nördlich, etwa im Appenzellerland sowie in den älteren unterrätischen Verdeutschungszonen, so gelegentlich in der Namenwelt Vorarlbergs (Litten in Klösterle), in Liechtenstein †Halalitta (Schellenberg) und dann vor allem in Werdenberg. Dort wie anderswo bezeichnet er stets steilere Hanglagen: Litt (Grabs), Litte (Grabs, Sevelen, Sennwald), Litten (Gams), Littli (Sevelen, Grabs), ferner Hinder -, Vorder -, Ober Litte, †Hangend Litte (alle Grabs); in Wortverbindungen finden sich: Littenberg, Littenhalde, Littenrain (alle Grabs), dann (nebst Schalmenlitte) auch Berglitte und Salslitte (alle Grabs), Eichlitten, -litteli, Gazolflitte, Gitzilitte, Tungenlitte (alle Gams), Schwendilitte (Sennwald).

In Tirol setzt sich die Verbreitung des Namentyps fort, dort dann lautgerecht als Leite und noch als Sachwort für ‘recht steiler Berghang, Bergflanke’, daneben aber ebenfalls als Name (Donauleiten, Lechleiten, usw.). Auf eine Geländebezeichnung (Hofname, Wohnlage) geht auch der sehr häufige tirolische Familienname Leitner (auch Lechleitner usw.) zurück.

Zurückkommend auf unsere Schalmenlitte: Damit ist nun klar, dass der Bezugspunkt dieses und aller anderen erwähnten Fälle ein Steilhang ist. Wenn wir hierzulande das Wort als Litte aussprechen, so sei noch ergänzend bemerkt, dass es sich dabei um eine regionale Aussprachevariante von mittelhochdeutsch Lîte (mit langem i) handelt. Bei uns ist unter dem Einfluss des -t- das -i- gekürzt worden, anderswo (etwa in Zürich) ist diese Kürzung in analogen Fällen aber unterblieben, man vergleiche zürichdeutsch «Siite» für ‘Seite’, wo wir ebenfalls «Site» aussprechen (und «Sitte» schreiben würden). Damit können wir zum zweiten Namenselement, Schalm(en)-, übergehen.

Auch «Schalm» ist deutsch. Das schweizerdeutsche Wort «der Schalm» bedeutete in älteren Zeiten ‘ein als Erreger von Viehseuchen vorgestellter Krankheitsdämon’, dann hiess es (aber nur mehr in Ortsnamen) auch ‘Kadaver’ (als das Opfer des Dämons). Zudem wurde das Wort als starkes Schimpfwort verwendet für Haustiere, etwa Pferde, dann auch für Menschen (‘schlechter, infamer Kerl, Spitzbube’, harmloser auch ‘Schlingel, Schalk, Spassvogel, schlauer, pfiffiger Mensch’, ohne schlimme Nebenbedeutungen). Das ältere Schweizerdeutsch kannte etwa Ausdrücke wie «Du Schalmen-Chog!», «Das ischt doch e Schalme-Wetter!». Ebenso wurden müssige Zuschauer in der Schmitte etwa als «Schmitte-Schalmen» getadelt. Das Wort geht auf althochdeutsch scalmo, skalm ‘Pest, Seuche’, jünger (mittelhochdeutsch) schalm(e), ‘Seuche’, auch ‘Aas, toter Körper’ zurück.

Deutsch Schelm (mit altem Umlaut-e) beruht ebenfalls auf dieser Grundlage; man stellte sich auch darunter ein dämonisches, in Tier oder Mensch hausendes Wesen als Urheber von Seuchen und anderen Krankheiten vor. Daraus folgte, dass es zur Bezeichnung einer (Vieh-)Seuche («der gelbe Schelm» ‘Milzbrand’) verwendet wurde, und vor allem stand es für das ‘Tier, das dem Schelm zum Opfer gefallen ist’ und bedeutete dann schliesslich (gleich wie Schalm) überhaupt ‘gefallenes Tier, Kadaver, Schindaas’. Das Bild wurde dann auch ins Moralische gewendet etwa in der Redewendung «den Schelmen im Leib haben» (‘betrügerische Absichten, schlimme Hintergedanken hegen’), oder «mit dem Schelmen draus gehen» (‘sich aus dem Staub machen’).

Zudem wurde Schelm zum Beinamen für den als unehrbar geltenden Beruf des Schinders und Scharfrichters, woraus es schliesslich sich verallgemeinerte zu weiteren negativ behafteten Schimpfwörtern wie ‘Bösewicht’, ‘Schurke’, ‘Betrüger’, ‘Verräter’, ‘Dieb’. Das Schelmengässli in Grabs enthält diese sekundäre Wortform in einer der letztgenannten Bedeutungen: es bezeichnet ein Seitengässchen der Dorfstrasse im Dorfzentrum, das offenbar seinerzeit mit der Vorstellung verbunden war, es würde vor allem von denen benutzt, die die Öffentlichkeit zu scheuen hätten.

Aus grösserer Distanz ist hier, hinter dem Tobel des Lehnbachs, der besagte Hang von Süden her zu sehen. Wir stehen über dem Nageldach, bei der Gelshalde, etwa 300 m südlich des Weilers Lehn, und blicken nach Norden, also rheintalabwärts. In der Bildmitte das Haus genannt «s Stutzis», darüber (weiter hinten) «s Hof Fritlis» auf dem Lehn (die anderen Häuser des Weilers Lehn befinden sich links oben ausserhalb des Bildes). Von dort senkt sich die Hanglinie abwärts gegen Schalmenlitte (rechts unten); gut sichtbar vor dem Nebel das schiefe Ställchen, darunter der Schalmenlitte-Stall. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Nun steht auch die Grundbedeutung unseres Namens Schalmenlitte recht deutlich vor uns: ‘der steile Hang mit den Tierkadavern’, genauer: ‘ein steil ansteigender [offenbar noch bewaldeter] Hang, über den [von oben herab] die Tierkadaver [der darüber gelegenen Höfe] geworfen [entsorgt] wurden’.

Zu dieser Deutung passt der Umstand sehr wohl, dass auf der ausgedehnten Terrasse über besagtem Hang (dem «Müller») sich einer der Hauptsiedlungskerne des Grabser Bergs, der Weiler Lehn, ausbreitet (dort, wo die Strassen nach der Voralp und nach Wildhaus sich scheiden). Es ist ja leicht verständlich, dass die Bewohner des Weilers für die Beseitigung von nicht mehr verwertbaren toten Tieren gerne einen geeigneten waldigen Steilhang in der Nähe aufsuchten, wo man auf das «Verlochen» verzichten konnte, weil dort die Füchse und andere Raubtiere die weitere Entsorgung übernahmen …

Entsprechende Orte gab es in älterer Zeit sicher allgemein häufig in der Nähe der Siedlungen. So gibt es recht viele Flurnamen mit Schalm- (eben: ursprünglich mit Bezug auf den Schindanger) im östlichen Mittelland – hier eine Auswahl: Schalmen (Wiesendangen, Zell, ZH), Schalmenacher (Stadel ZH), dann Schalmeriet (Thayngen SH), Schalmenacker (Oberbüren SG), Schwalmentöbeli (!) (Degersheim SG), Schalmenagger (Bürglen TG), Schalmenacker (Hüttlingen TG), Schalmen-Gässli und Schalmen-Halden (Güttingen TG), Schalmis (< Schalm-Mos, Bussnang TG), Schalmenweg (Ermatingen: ‘Weg, auf dem der Abdecker das Aas wegschleppte’), usw. Wer sich dazu näher informieren will, kann fündig werden unter www.ortsnamen.ch.

Damit ist ziemlich alles gesagt, was zur Erklärung unseres Hofnamens Schalmenlitte gesagt werden muss.

Was jetzt noch folgt, ist ein Exkurs, der einerseits nicht hierher gehört, sich andererseits in diesem Zusammenhang aber dennoch fast aufdrängt. Es geht um die schweizerdeutschen Wörter Cheib m. und Chog m., denen wir uns auch noch rasch zuwenden wollen. Viele unter uns mögen diese Ausdrücke nur mehr als Schimpfwörter kennen, und zwar einigermassen von der milden Sorte: «das cheiben Züüg», «der chogen Luft», «cheiben-glatt, chogen-guet». In Wirklichkeit gehören sie mit Schalm/Schelm in eine und dieselbe Bedeutungssphäre, nur sind sie durch häufigen Gebrauch mit der Zeit sozusagen von ihrem Aasgerüchlein befreit worden und zu Allerweltskraftausdrücken aufgestiegen.

Fall 1: Mundartlich Cheib m. geht (wie Schalm) von der Bedeutung ‘Aas, krankes Vieh’ aus; schon mittelhochdeutsch keibe m. hiess ‘Leichnam; Aas’, auch ‘Mensch, der den Galgen verdient’. Das Wort hängt mit dem Verb kīben zusammen, das ursprünglich ‘nagen, zehren’ bedeutete und sich zuerst auf die ‘nagende, zehrende Krankheit’ bezog und von dort aus auch auf ‘das von der Krankheit oder (nachdem es tot gefallen und weggeworfen worden ist) von Raubtieren oder Insekten verzehrte Tier’. Da finden wir nun in unseren Gemeinden auch einige zugehörige Geländenamen, nämlich: eine Chibegg (Sennwald), ein Chibloch (Grabs) und über dem Rhein ein †Kibwäldle (Ruggell). Auch hier liegt allgemein der Gedanke nahe, es handle sich um Orte, wo entweder Vieh verunglückte und liegen blieb oder wohin Kadaver geschleppt wurden (namentlich beim Chibloch, einer Senke zwischen Felsen im Obersess der Grabser Alp Ischlawiz, scheint letzteres naheliegend). Beim steilen Waldgebiet Chibegg am Sennwalder Berg (mit vorspringendem Felsen, zwischen Chelenbach und Schmelzibach) kann allenfalls auch eine ‘verwünschte, schwer zu begehende Stelle’ gemeint sein (also als Schimpfwort), und das †Kibwäldle liesse sich – nebst dem bisher Gesagten – auch als ‘kleiner Wald, der Anlass eines Streites war’ verstehen, denn das Verb kīben hatte sich ja in der Mundart unterdessen auch die sehr populäre Bedeutung ‘schimpfen, keifen’ zugelegt.

Fall 2: Mundartlich Chog(en) m. heisst ebenfalls ‘verendetes, gefallenes Tier oder Fleisch von einem solchen’, ferner ist auch es ein Schelt- und Schimpfwort in mehr oder weniger abstraktem Sinn (Ärger, Verachtung, Verwünschung); heutzutage fungiert es vor Eigenschaftswörtern auch als verstärkendes, dessen Grundbedeutung steigerndes Element, aber in durchaus abgemilderter, verblasster Bedeutungsnuance («chogen-schöen», «chogen-tüür»; siehe oben «cheiben-glatt»). Mittelhochdeutsch koge m. war zunächst eine ‘ansteckende Seuche (Contagium pectoris)’, aus der sich die nachfolgende Bedeutungsentwicklung leicht erklärt. In Flurnamen verweist Chogen- meist auf Örtlichkeiten, an denen verendete Tiere verscharrt wurden. Namentlich im Gebirge kommen auch Stellen in Frage, an denen öfters durch Absturz verunglückte Tiere liegenblieben. Chogenböden und Chogenlöcher gibt oder gab es in Wartau, letzteres auch in Sennwald, häufig ist Kogaloch (Kogabödili, Kogatobel) auch in Südvorarlberg sowie in Graubünden anzutreffen; ein Chogentöbili kennen die Wartauer. Das Verb chögelen heisst in unseren Mundarten noch durchwegs 'übel (nach Aas) riechen'. Und am Schluss sei auch noch an den den Kolkraben (Corvus corax) erinnert, den grössten europäischen Rabenvogel mit dem rauen, knarrenden Ruf, dessen Aufgabe es ist, als Gesundheitspolizist in der Natur mit dem Aas aufzuräumen. Er heisst bei uns darum folgerichtig Chogen-Rapp.

Damit schliessen wir nicht nur diesen Nebenexkurs in die weiteren Gefilde des Aases und der Kadaververwertung, sondern auch die Betrachtung des Namens Schalmenlitte insgesamt, der zum ganzen Aufsatz den Anlass bot, und welche wir hiermit als erledigt betrachten dürfen.

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