«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Die Entstehung der Zweinamigkeit

Herkunft und Bildungsweise der Zweitnamen (Familiennamen)

Aus der Zeit nach 1000 ist sowohl für die romanischen wie für die deutschen Gebiete Europas ein auffälliger Namenschwund festzustellen, der in gewissem Sinn die moderne Zweinamigkeit vorbereitete. Solange im Altgermanischen wie im Altromanischen die Einnamigkeit vorherrschend war, konnte jedes Individuum theoretisch einen anderen, von den übrigen sich unterscheidenden Namen tragen.

Es ereignete sich nun aber die auffällige Erscheinung, dass dieser ursprüngliche, reiche Schatz an Namen rasch zusammenschmolz. Immer mehr Individuen mussten sich in den gleichen Namen teilen. Dies hatte zur Folge, dass deren Unterscheidung zunächst einmal erschwert wurde. In einer zweiten Etappe musste daher diese Unterscheidbarkeit namengleicher Personen wieder sichergestellt werden durch ein differenzierendes System von Kurzformen und Namenableitungen (wie sie oben schon angedeutet wurden). Mit anderen Worten: an die Stelle der vielen Namen trat ein System mit wenigen Namen, die aber unzählige Varianten aufwiesen.

Um 1400 hat sich der Bestand der germanischen Namenstämme auf 50 bis 60 reduziert (RN 3, 121), und von jedem dieser Namenstämme sind nur noch je ein bis zwei Namentypen in die Neuzeit übergegangen. Dafür haben sich einzelne in fast unglaublicher Weise ausgebreitet: So stammen allein aus dem Namentyp Rudolf (der als einziger den germanischen Wortstamm hrothi ‘Ruhm, Ehre’ fortsetzt) etwa die Familiennamen Rudolf, Redolfi, Dolf, Duff, Caduff, Dusch, Dosch, Cadosch, Cadusch, Cadosi, Rüedi, Ruedi, Riedi, Ruef, Rutz, Ruesch, Ruosch, Rüesch, usw.

Jemand hat ausgezählt, dass sich in Florenz im Jahre 1260 von 5005 Einwohnern deren 1450 in die zehn Namen Jacobus, Johannes, Guido, Bencivenni, Ugo, Benvenutus, Aldobrandinus, Bonaiuta, Boncambius und Bonaccursus teilen mussten. Dergestalt war natürlich die Unterscheidung der Einzelpersonen sehr problematisch geworden. Hier konnte im wesentlichen auf drei Arten eingegriffen werden (vgl. RN 3, Einleitung 28):1.

1. Man bezeichnete das Individuum zusätzlich zu seinem Eigennamen mit dem Namen des Vaters oder der Mutter; man spricht dann von einem Patronymicum bzw. einem Matronymicum. Ein grosser Teil unserer Familiennamen ist so entstanden: ein Duff Armon ist also eine Person namens Duff (Rudolf), Sohn des Armon (Hermann). Oder ein Heinz Kunz ist Heinz, Sohn des Kunz.

2. Oder man benannte das Individuum mit der zutreffenden Berufs- oder einer Standesbezeichnung (etwa Schmid, Weber, Schumacher; Herzog, Küng, Kaiser, Knecht) oder mit einem Übernamen, der auf gewisse körperliche, geistige oder seelische Eigenschaften des Trägers Bezug nahm oder auf vielfach längst vergessene Dorfanekdoten zurückgeht.

Übernamen gibt es noch heute in jeder Gemeinde zuhauf, und jeder Einheimische weiss mit ihnen umzugehen, sie zu verwenden oder zu vermeiden, je nachdem, wie Umstände und Situation dies nahelegen. Keineswegs stets, aber doch oftmals ist noch die Erinnerung an die Entstehung eines solchen Spott- oder Übernamens lebendig.

Heutige Übernamen haben aber nur «inoffizielle» Geltung in einer sozialen Gemeinschaft; längst haben sie aufgehört, sich zum «eigentlichen» Namen einer Person und deren Nachkommen aufschwingen zu können. Genau dies geschah aber in der Zeit des Hoch- und Spätmittelalters, als unsere Familiennamen (als Zusatz zur uneindeutig gewordenen ursprünglichen Einnamigkeit) entstanden.

Die Verfestigung der Übernamen zu allgemeinen Familiennamen kann in Rätien in einen Zeitraum zwischen dem 14. und dem 16. Jh. verlegt werden. Im 17. Jh. jedenfalls waren die Familiennamen bereits fest verankert, und schon tauchen wieder neue Übernamen auf, um in der Vielzahl der mittlerweile in Vor- und Familiennamen wieder gleich heissenden Personen neuerdings Ordnung und Übersicht zu schaffen.

Die Stabilisierung der Beinamen zu festen Familiennamen begann in der Oberschicht, im Dienstadel, erreichte etwas später das städtische Bürgertum und wurde schliesslich auch von der bäuerlichen Landbevölkerung übernommen.

Familiennamen wie Lang oder Kurz werden sich auf körperliche Grösse beziehen. Der romanische Familienname Grass bedeutet ‘der Fette’; entsprechend entstand ein deutscher Name Feist. Haarfarbe oder raue, glatte, krause oder andere Haarbeschaffenheit fanden ebenfalls in einer Vielzahl von Über- und Familiennamen Eingang.

Die Wesensart eines Menschen konnte zu vielerlei Zunamen Anlass geben. Fröhlichkeit oder Missmut, Verschwendungs- oder Grossmannssucht, Ess- und Trinkgewohnheiten, heftige, aufbrausende Wesensart, Eigensinn, Langsamkeit, Einfalt und Dummheit boten ebenfalls reiche Ernte. Weiter konnten Tiernamen auf Menschen übertragen werden.

Im Grabser Urbar von 1463 finden sich Beinamen, die wenigstens zum Teil schon den Eindruck fester Familiennamen erwecken, aber offensichtlich von Übernamen her stammen: ein Personenname Bockfleisch steckt im Örtlichkeitsnamen †Bokflaischs Gräbli; wir finden da einen Uolrich Crutmuos, einen Hanssen Liederlich, und in der Ortsbezeichnung †Füllengasts Acker ist ein Personenname Füllengast enthalten: eine Art Imperativname ‘Füll den Gast’ (von einem Wirt), wie sie auch erscheinen in Namen wie Schlaginhaufen oder Haubensack (aus: Hau den Sack!), und wie sie bereits in romanischer Zeit entsprechend vorkamen: Der Grabser Familienname Gantenbein geht zurück auf das romanische canta bein!, was mit ‘sing gut’ (oder: ‘er singt gut’) zu übersetzen ist. Parallel dazu ist für das Bündner Oberland ein Name Magliabein für das 14. Jh. bezeugt, dem die Bedeutung ‘iss gut’ innewohnt.

3. Schliesslich kann eine Person mit einem Beinamen versehen werden, welcher vom Wohnort abgeleitet ist. Das kann heissen, dass ein späterer Familienname auf eine Ortschaft Bezug nimmt (wie Zürcher, Berner, Schwitter (aus Schwyz) oder ähnlich), oder auf einen Dorfteil, einen Weiler oder eine sonstige Ortsbezeichnung.

Hierher sind Familiennamen zu stellen wie Gasenzer (Grabs: zum Dörfchen Gasenzen in Gams), Dünser (Schaan: zum vorarlbergischen Dorfnamen Düns), Ganser (zu Sargans).

Bezug auf Weiler und blosse Geländeabschnitte nehmen etwa: Saxer (Sevelen: zum Flurnamen Sax in Buchs), †Montaschiner (Werdenberg: zum unweit gelegenen Hofnamen Muntaschin), Flater (Wartau: zum Geländenamen Flat in Buchs/Sevelen), Furgler (Pfäfers: zu Furkels ebendort), Gubser (Quarten: zu Gubs in Murg), Müntener (Buchs: zu einem ausgestorbenen Flurnamen †Müntina oder †Muntina wohl im Raum Buchs), Quaderer (Schaan: zum Flurnamen Quader ebendort), Roduner (Sennwald: zu einer heute unbekannten Örtlichkeit †Rodunn), †Muntlerentscher (Grabs: zum Weiler Muntlerentsch am Grabser Berg), Eggenberger (Grabs, Buchs: zum Weilernamen Eggenberg am Grabser Berg), Wenaweser (Schaan: zum Weiler Winnenwis am Grabser Berg).