«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Altendorf

(Buchs)

Wie allgemein bekannt ist und uns auch immer wieder in Erinnerung gerufen wird, hat sich Buchs unlängst zur Stadt Buchs erklärt. Damit wurde eine rasante Entwicklung abgesegnet, die noch vor zweihundert Jahren für das einfache Bauerndorf wohl niemand vermutet hätte. Dieses Wachstum setzte ein mit dem Bau der Eisenbahn und der Einrichtung des damals weit ausserhalb des Dorfes befindlichen Grenzbahnhofs. Bis ins späte 19. Jh. hatte die Bevölkerung von Buchs mehrheitlich von der Landwirtschaft gelebt. Zusätzlich erhielt die Stickerei bis zum 1. Weltkrieg grosse wirtschaftliche Bedeutung. Dann aber siedelten sich internationale Speditionsfirmen und namhafte Industrie- und Gewerbebetriebe an, welche die Wirtschaftsstruktur des Ortes im 20. Jh. dann prägten. So kam es, dass sich das Dorf in wenigen Jahrzehnten stark entwickelte und zum regionalen Einkaufs- und Bildungszentrum sowie zum Bezirkshauptort wurde.

Noch um 1850 scharte sich das alte Buchs mit verhältnismässig wenigen Häusern hauptsächlich der St.Gallerstrasse entlang um die evangelische Kirche, mit je einem Ausläufer nach Widen und Stütli im Nordosten sowie in das Moos am Werdenberger See im Nordwesten. Eine Bahnhofstrasse gab es zu der Zeit noch nicht, so wenig wie eine Schulhausstrasse in der Grof samt den dortigen Wohnzonen oder ein Chappeliquartier östlich davon, und auch die nördlichen Gebiete Äuli und Hanfland war noch siedlungsfreies Weide- und Pflanzland weit ausserhalb des Dorfes. Die rund zwei Kilometer weiter südlich liegenden Dörfchen Räfis und Burgerau gehörten zwar seit alters zum Kirchspiel Buchs, waren aber, wie uns die alten Karten zeigen, vom Dorf noch weit abgelegene eigene Siedlungen.

 

Ein weiteres Dörfchen bleibt noch zu erwähnen, denn von ihm soll hier die Rede sein – das Altendorf. Es liegt etwa einen Kilometer südlich des damaligen Dorfzentrums, am Ausgang des Tobels des Buchser Bachs, und es war mit dem Dorf seit jeher durch eine Gasse verbunden, die von der Traube aus oberhalb der Grof und an Steinen vorbei sich dem Bergrand entlang schlängelte.

Wie es im katholischen Mittelalter üblich war, gab es in unseren Gemeinden mehrere Andachtsstätten, verteilt auf die bewohnten Zonen oder deren Nähe: So besass Buchs neben der evangelischen Kirche St.Martin im Dorf eine St.Georgskapelle (wohl im Gebiet Chappeli: im 9. Jh. als «ecclesia», also als Kirche, bezeugt), dann eine St.Katharinakapelle (in Räfis), eine St.Wolfgangskapelle (in der Grossen Grof) und schliesslich im Altendorf eine St.Jakobskapelle.

Blick von Osten her auf Buchs. Links hinten (beim hohen Mühlensilo) liegt Altendorf. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Das Altendorf, oder wie man es älter nannte, s Maladorf, liegt am Ausgang des langgezogenen Tobels zwischen Seveler und Buchser Berg, durch das der Tobelbach oder Buchser Bach die Alp Imalschüel entwässert. Im Altendorf trieb dieser Wasserlauf eine Mühle, eine Spinnerei und ein Hobelwerk. Von hier an ist sein Lauf heute künstlich geleitet, wendet sich ostwärts und mündet unten in der Grof in den Giessen, während der alte Bachlauf früher nordwärts durch Altendorf über Steinen und am alten Rathaus vorbei über Widen und Stütli verlief (wo er die Stütlimühle antrieb); weiter im Norden vereinigte er sich ebenfalls mit dem Giessen.

Die Siedlung Altendorf ist zweifellos von beträchtlichem Alter, gehört jedenfalls zu den älteren Dorfteilen. Urkundlich erscheint sie erstmals um 1380 als «Altendorff», und diese Form wiederholt sich in den Urkunden immer wieder, bis um 1520 erstmals «maldendorff» erscheint (es heisst dort: «der heinrych rorer von maldendorff»). Jedoch überwiegt auch fortan «alten dorff» (und ähnlich), dazwischen erscheint gelegentlich (1654 und 1677) wieder der Typ «malten dorf». Bei dieser Variante auf M- ist die Ähnlichkeit mit der Mundartform «Maladorf» leicht wahrzunehmen, und die Vermutung liegt nahe, dass sich in ihr die Wendung «im Altendorf» (> i Maltendorf > Maladorf) spiegelt. Doch hat gerade dieses Mala- noch zu anderen Erklärungsversuchen geführt. Damit sind wir bei der üblichen Frage angelangt, was die älteren Namendeuter zu dem Fall zu sagen wussten.

Das Gebiet von Werdenberg bis Räfis im Jahr 1851: Man sieht die damalige Ausdehnung der Siedlungen sowie den Verlauf der Bäche vor ihrer Korrektion. Altendorf und Räfis liegen weitab vom Dorf Buchs. - Ausschnitt aus der Eschmannkarte, Blatt Werdenberg (1851).

David Heinrich Hilty erwähnt 1890, dass man noch «vor 20 Jahren» Maladorf gesagt habe, «jetzt aber Altendorf», und er fügt etwas rätselhaft hinzu, «das zeige, dass das Romanische sich verliere». Er scheint also in Mala- etwas Romanisches zu vermuten, sagt es aber nicht.

In gewissem Sinne «romanisch» ist tatsächlich etwas bei Maladorf, nämlich die Betonung, die auf dem zweiten Namenteil (-dorf) liegt (während es jünger heisst im Altedorf, also nach alemannischer Manier mit betonter Erstsilbe). Das beweist zwar nicht eine romanische Herkunft des Namenteils Mala- – wohl aber liegt in dieser Intonation ein bei uns noch lange nach dem Sprachwechsel wirksames «romanisches» Erbstück (vgl. Malbun, Fontnas, Gretschins). Möglicherweise wirkte sich diese uralte Betonungsgewohnheit sogar auch auf deutsche Namen aus; vielleicht betont darum der Grabserberger «Eggenberg, Neuenalp» usw., während Ortsfremde (denen dieses Muster fremd ist) den Akzent gerne «umgekehrt» setzen (nämlich: «Eggenberg, Neuenalp»).

Heinrich Gabathuler (1944) meinte zur Sprechform Maladorf, das könnte ein «Mühlendorf» sein; er dachte also an romanisch mulin m. ‘Mühle’, das sich aus *Mulin-dorf zu Maladorf verschliffen hätte, oder an mola f. ‘Mühlstein’. Das ist auch nicht geradezu unmöglich, allerdings fehlen jegliche weiteren Anhaltspunkte in dieser Richtung. Gabathuler sagt dann aber auch, im Namen Altendorf drücke sich die Auffassung vom «alten Dorf» im Gegensatz zum «jüngeren, aufblühenden Buchs» aus. Falls er dabei an das moderne Buchs gedacht hätte, müsste allerdings eingewendet werden, dass für die Zeit um 1380, als «Altendorff» erstmals urkundlich erscheint, dieser Gedanke noch kaum plausibel gewesen wäre. Doch er meint möglicherweise auch eine viel frühere Entwicklung des Ortes in Richtung vom Tobelausgang talwärts, und das wäre nun eher denkbar.

Auf dieser überarbeiteten Eschmannkarte  von 1862 sieht man bereits die Linie der Rheintalbahn und den Bahnhof Buchs - noch weitab vom besiedelten Gebiet. - Ausschnitt aus der Karte "Rhein-Correction", 2. Blatt Werdenberg (1862).

Eine sehr alte Ortschaft ist Buchs auf jeden Fall; die Existenz des Ortes ist spätestens seit karolingischer Zeit, seit dem 8. Jh. also, ununterbrochen nachgewiesen, und sie kann durchaus noch viel weiter zurückreichen. Es ist merkwürdig: Der deutsche Name Altendorf bringt zum Ausdruck, dass die so benannte Siedlung alt (also: die ältere von zweien) sei. Zugleich aber scheint gerade der Umstand, dass der Name deutsch ist, zu bedeuten, dass es sich beim Dörfchen um eine relativ jüngere Besiedlung handle (jünger als Buchs selbst, dessen Name jedenfalls von höherem Alter zeugt). Kann man diesem Widerspruch ausweichen, indem man annimmt, dass das Dörfchen Altendorf sehr wohl älter war, seinen jüngeren deutschen Namen aber später durch Umbenennung erhielt – als Ersatz für eine abgegangene ursprüngliche Bezeichnung? Wir können es nicht entscheiden. An sich ist zu vermuten, dass die Zone unmittelbar vor dem Tobelausgang, wo wohl seit den Anfängen eine Mühle stand, tatsächlich zum sehr alten Siedlungsraum gehörte. Allerdings scheint sich ein Namenswechsel (von dem keinerlei Spuren mehr vorhanden sind) auch nicht von selber zu verstehen, bleibt blosse Hypothese.

Leichter macht es uns der Buchser Hobby-Forscher Ernst Rohrer, Dr. chem., der in seiner Broschüre Die Deutung unserer Orts- und Flurnamen. Beitrag zur Buchser Heimatkunde (1964) nebst manch Richtigem immer wieder mit seiner laienhaften Deutungsweise Anstoss erregt. Er springt bedenken- und kritiklos zwischen oft weit entfernten antiken Sprachen und heutigen Flurnamen hin und her, und er zaubert dabei oft die tollsten Verknüpfungen aus dem Hut. So wollte er in Maladorf ein keltisches māla ‘Hügel, Höhe’ sehen; gleichzeitig hielt er aber auch die deutsche Bedeutung ‘im alten Dorf’ für möglich, ferner dachte er an «lat. alta ‘Höhe’» (weil Altendorf höher liegt als Buchs), und schliesslich fügte er auch noch ein gälisches (= inselkeltisches) «allt ‘steiles Gelände, Böschung’» sowie «keltisch allta ‘Bergbach’» hinzu, die er offenbar in einem keltischen Wörterbuch gefunden hatte. Das alles breitete er nun unbelastet und unfachmännisch als angeblich passend vor dem Leser aus, diesem die Wahl überlassend.

Buchs und Altendorf im Jahr 1883. Mittlerweile ist die Bahnhofstrasse angelegt worden, mit je einer Häuserzeilen zu beiden Seiten. Auch längs dem Strässchen gegen Altendorf hin sind einige Wohnhäuser dazugekommen. - Ausschnitt aus: Karte der Arlbergbahn und Rheintalbahn (1883).

Valentin Vincenz geht in seiner Untersuchung der Flurnamen von Buchs davon aus, dass Maladorf ein verschliffenes im Altendorf sei. Dann aber scheint er die Deutung doch wieder in Zweifel zu ziehen, indem er meint, ein Altendorf (als ‘altes Dorf’) hätte eigentlich nur aus dem Vergleich mit einem *Neudorf hervorgehen können – da ein solches aber nicht vorhanden sei, bleibe die Erklärung fraglich. Der Schluss ist allerdings nicht zwingend: es müssen im Fall eines Begriffspaars wie «neualt» in Namen durchaus nicht stets beide Teile des Paares als Namen (noch) vorhanden sein – so gibt es zum Beispiel in Grabs etwa den Namen Neuenalp, ohne dass ein explizites «Gegenstück» in Form einer *Altenalp existieren würde.

Vincenz suchte aber noch einen anderen Weg. Er erinnerte daran, dass sich hinter einem (vermeintlich) deutschen Alt-Namen auch ein verkappter Romanismus verbergen könnte, der auf romanisch alt (ault) ‘hoch’ (lat. altus) beruhen würde und nach dem Sprachwechsel dann zu deutsch alt umgedeutet worden wäre. Tatsächlich hat der Zürcher Professor Heinrich Schmid in der romanistischen Fachzeitschrift Vox Romanica 39(1980), 129ff. auf ein paar wenige möglicherweise so zu erklärende Fälle im Kanton Glarus und im Linthgebiet sowie in der Innerschweiz hingewiesen: Namen wie Altgrat, Altplangg, Altenalp, in denen also das romanische Adjektiv ault ‘hoch’ stecken könnte. Dabei unterstreicht Schmid allerdings, dass diese Verknüpfung keineswegs bei jedem Alt-Namen vermutet werden dürfe: So müsse die entsprechende Örtlichkeit sich jedenfalls durch hohe Lage im Gelände auszeichnen. Das ist bei unserem Namen Altendorf aber nicht der Fall, und auch sonst gibt es hier keinerlei Indizien, die bei ihm für eine solche Umdeutung sprechen würden. Die Vermutung bleibt hier daher gänzlich hypothetisch, ja, sie ist kaum ernsthaft in Betracht zu ziehen.

Wir bleiben also auf einem ungeklärten Rest sitzen. Es ist heute nicht mehr möglich, die Geschichte dieser Benennung gänzlich auszuleuchten. Wahrscheinlich ist und bleibt sicher die Deutung als ‘altes Dorf’, ‘alter Dorfteil’. Auch wenn man einwenden könnte, es sei widersprüchlich, wenn der Name des ganzen Dorfes, Buchs, schon im Jahr 765 als (romanisches) Pogio auftrete, während die Bezeichnung des angeblich «älteren» Dorfteils Altendorf deutsch sei und erst im 14. Jahrhundert erscheine. Der Einwand scheint nicht unplausibel – nur bleibt eben vieles im Dunkel.

Die Mühle Senn zuoberst im Altendorf, am Ausgang des Bachtobels. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Die Ortsnamenforschung sagt, dass der Name Buchs mit seinem frühmittelalterlichen Erscheinen 765 als Pogio auf lat. podium ‘Tritt, Stufe’ zurückgeht. Welche «Stufe» wird damit gemeint sein? Man könnte aus der Bezeichnung die Vermutung ableiten, dass ein ältester Siedlungskern dieses Namens noch nicht am Rand der Talebene, sondern etwas erhöht auf einer Geländestufe angelegt worden wäre. Wo dies gewesen sein könnte, ob beim Friedhof, in Underrunggels oder auf dem Schneggenbödeli, ist durch archäologische Zeugnisse nicht nachgewiesen; wir wissen es nicht.

Es gab dann aber frühe Siedlungskerne auch am Hangfuss (wo nur ein schmaler Streifen über Jahrhunderte siedlungsgünstig war) auf den Bachschotterfächern von Buchserbach und Röllbach (Buchs, Räfis). Diese Siedlungen gehen in ihren Ursprüngen auf karolingisches Königsgut zurück. Vgl. dazu Caroline Krumm, Kunstdenkmäler des Kt. St. Gallen, Bd. VI, S. 186. Im Fall von Altendorf deutet (nach Krumm) der deutsche Name auf eine spätere Siedlungsentwicklung hin. Wie dabei die Bedeutung des Namens Altendorf als ‘altes (älteres) Dorf’ chronologisch (und logisch) einzuordnen ist, muss offenbleiben. Wie schon erwähnt, liesse sich denken, dass dieser angeblich ältere Dorfteil mit dem deutschen Namen vielleicht zu romanischer Zeit noch anders geheissen habe. Doch darauf gibt es eben keinerlei Hinweise.

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