«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Amasis

(Grabs)

VerlĂ€sst man auf der Fahrt an den Grabser Berg das Dorf im Cholplatz, dem obersten Quartier, dann wendet sich die Bergstrasse gleich bei der BrĂŒcke ĂŒber den Walchenbach gegen Norden und zieht sich langsam den steilen Fuss des Berghanges nordwĂ€rts hinauf. Nach rund 500 m wird das GelĂ€nde ĂŒber der Strasse flacher. Hier breitet sich eine einladende, langgezogene GelĂ€ndeterrasse mit einigen Heimwesen aus. Das sicher seit alter Zeit besiedelte Gebiet heisst Amasis (gesprochen: Amasiis - der Name ist auf der letzten Silbe betont). Geschrieben wurde es traditionell als Masis. Es zĂ€hlt zu den schönsten und zweifellos sehr frĂŒh urbarisierten Lagen am unteren Berghang. Dass hier die Kirche von Grabs GĂŒter besass (wahrscheinlich seit alter Zeit), ist daher nicht zu verwundern. Die Kirche von Grabs gehört zu den Ă€ltesten GotteshĂ€usern in der weiteren Umgebung; sie ist schon im 6. Jahrhundert nachgewiesen. Ihr Grundbesitz war infolge ihres Alters und der Grösse der Gemeinde bedeutend: Die GĂŒter von 64 Haushaltungen waren ihr eigen; dazu kamen noch GĂŒltbriefe; ferner das ansehnliche Eigentum der Pfrund, das von seinem Inhaber, dem Pfarrer, direkt genutzt wurde. Noch 1734 heisst es in einem landvögtlichen Schreiben: «  in einem zur Pfruend Grabs gehörigen Stuckh Guet Amma seis genamt». Und 1735 steht in einem Schuldprotokoll: «Ein Höffle samt dem Stadel genamth Ama seis, gegen Abend und gegen Mitnacht an das Pfar höffle». Noch im 20. Jahrhundert wurde das nördlichste Haus dieses Weilers Höfli genannt (auf der Karte als Höfli3). Das eben erwĂ€hnte Pfarrhöfli gehörte also zum Kirchengut. Hof-Namen gibt es ĂŒbrigens in unseren Gemeinden sehr hĂ€ufig; sie weisen zurĂŒck auf Besitzungen eines (weltlichen oder geistlichen) Grundherren. Vor diesem Sachhintergrund lĂ€sst sich der Name Amasis einer plausiblen Deutung zufĂŒhren.

Im Urbar der Gemeinde Grabs von 1463 wird (S. 32) ein Weg am hinteren Grabser Berg wie folgt beschrieben: «  das ain weg sol gan vom Vorst durch die Howota nider [
] und ab und ab ĂŒber Claussen Vittlers erben Masis ab untz [= bis] an den Veld zun». WĂ€hrend die Bezeichnung Haueten fĂŒr den Hang unter dem Weiler Forst und ĂŒber Amasis heute nur noch wenigen bekannt sein dĂŒrfte, gehört der Name des Weilers Amasis zu den allgemein vertrauten Bezeichnungen.

Betrachten wir diesen Namen etwas nĂ€her. Die Ă€ltere Schreibung ist Masis; die heimische Aussprache aber stets Amasis (mit Betonung des -i- (genauer: Omesiis, und zwar so: döt ischt Omesiis / er goot Omesiis / mer sinn Omesiis / si chunn vu Omesiis). FĂŒr die junge Wohnsiedlung oben im Gebiet Amasis hat sich demgegenĂŒber die (fĂŒr AuswĂ€rtige) einfacher zu handhabende Bezeichnung Obermasis eingebĂŒrgert, wo der Grundname wieder auf seinen romanischen Kern reduziert worden ist.

Die volkstĂŒmliche Form Amasis dagegen zĂ€hlt zu jener Gruppe der hiesigen romanischen Namen, denen sich vorne eine deutsche OrtsprĂ€position angefĂŒgt hat (an Masis wurde zu Amasis). Die Problematik wird auf dieser Website ausfĂŒhrlich erlĂ€utert unter https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/. Sie soll uns daher hier nicht weiter beschĂ€ftigen.

Grabs und der Grabserberg. Das Gebiet Amasis liegt am unteren Berg, rechts der Bildmitte. - Luftaufnahme Hans Jakob Reich.

Es fĂ€llt auf, dass im erwĂ€hnten Urbar von 1463 der Name auch in der Mehrzahl, also wie ein Sachwort, verwendet wird. Es heisst dort (S. 22), dass «die mosisen» jeweils je ein Jahr Allmend («des kilchspels waid») sein solle, wĂ€hrend das Gebiet das andere Jahr bebaut werden («als ander buwland ligen») solle. Das sieht so aus, als handelte es sich bei Masis bzw. die Mosisen um ein Lehnwort aus dem Romanischen (ein Sachwort, dessen Bedeutung wohl der des romanischen VorgĂ€ngers entsprochen hĂ€tte). Dies ist denkbar, jedoch nicht zwingend. Denn es kommt vor, dass romanische Ortsnamen auch ohne diese Voraussetzung gelegentlich in die Mehrzahl versetzt werden, einfach um fĂŒr das angesprochene Gebiet mehrere Nutzungseinheiten anzudeuten – so in Liechtenstein etwa beim Namen Periol in Triesen (Ă€lter Epariol), fĂŒr das auch eine Mehrzahlform i da n Epariöler ĂŒberliefert ist, ebenso entsprechend bei Iradug in Balzers, das auch i da n Iraduga hiess. Es bleibt also offen, wie in unserem Fall die Mehrzahl «die mosisen» zu verstehen ist.

Werfen wir nun einen Blick auf die Àlteren Versuche, den Namen Amasis zu deuten!

David Heinrich Hilty greift im Jahr 1890 einmal mehr tief in die Fantasiekiste mit seinem angeblichen lat. masgidium, das er ĂŒbersetzt mit ‘Ort des Anbetens’. Nun ist allerdings den grossen lateinischen WörterbĂŒchern, selbst dem umfassenden Thesaurus Linguae Latinae, ein solches Wort schlicht unbekannt. Woher Hilty es nur hat? Man weiss es nicht. Jedenfalls wird so auch seine unverdrossene Frage «Brachten hier die RhĂ€tier ihren Götzen Opfergaben dar?» eher abschlĂ€gig zu beantworten sein.

Theodor Schlatter (1903) nennt den Namen in einer verfĂ€lschten Form Masiz, die er offenbar aus der Eschmannkarte (um 1850) bezogen hat, wo solche und Ă€hnliche Druckfehler hĂ€ufig vorkommen. Er will einen Zusammenhang herstellen mit engadinisch massitsch adj. ‘fest, massiv, gediegen’, ital. massiccio ‘massiv, derb’, wobei er an die Bauart eines GebĂ€udes denkt. Der Ansatz scheitert freilich allein schon aufgrund der falsch aufgefassten Lautform. Daher erĂŒbrigt sich eine weitere Besprechung.

In meiner Dissertation (Stricker 1974, 11ff.) ziehe ich zur ErklĂ€rung des Namens mittellateinisch mansus bei, beziehungsweise eine Verkleinerungsform mansinus, altromanisch mansin(s). Das Wort mansus (zu lat. manere ‘bleiben, wohnen, leben’) bedeutet zunĂ€chst ‘Wohnsitz’, ‘Hofstelle’, ‘unabhĂ€ngiges Landgut’. In der Rechtssprache verankert es sich in der Bedeutung ‘Hube, Hof, Pachtgut, Lehengut’, bezieht sich also auf ‘ein bewohntes Bauerngut, das in AbhĂ€ngigkeit zu einer Grundherrschaft steht’. Daneben wurde das Wort auch fĂŒr ein Grundmass (= 12 Jucharten) verwendet.

Unser Name Amasis in Grabs ist demnach zu verstehen als ‘kleiner Hof, «Höfli», kleines Lehengut’ (evtl. auch als Mehrzahl). Der konkrete sachlich-rechtliche Hintergrund der Benennung lĂ€sst sich indessen nicht prĂ€zise fassen.

Als Lehensinhaber kommt zunĂ€chst (im FrĂŒhmittelalter) der Landesherr in Frage; spĂ€ter tritt bei uns auch das Kloster Einsiedeln in dieser Rolle auf. Im Jahr 949 schenkte Kaiser Otto I. dem Kloster Einsiedeln das karolingische Reichsgut in Grabs, bestehend aus Kirche und LĂ€ndereien (sogenanntem Salland). Im Verzeichnis der Einsiedler Kirchen erscheint die Kirche Grabs um 970; im Urbar von 1220 wird sie dann nicht (mehr) ausdrĂŒcklich genannt. «Wie und wann sie abgestossen wurde und in die Hand der Grafen von Werdenberg kam, ist nicht festzustellen» (O. P. Clavadetscher, «RĂ€tien im Mittelalter», Disentis/Sigmaringen 1994, S. 206f.).

In einer (nicht auf Grabs bezogenen) Schenkungsurkunde aus dem Jahr 960 ist die Rede von einem Königshof («curtem regalem»), mit allem, was zu diesem gehöre, nĂ€mlich «Höfe, HofstĂ€tten, GebĂ€ude, Leibeigene beiderlei Geschlechts, Bebauer, «et omnibus mansis (= samt allen Lehenhöfen)» (vgl. BĂŒndner Urkundenbuch 1, S. 99, Zeilen 30ff.). Aus dieser Formulierung ist zu ersehen, dass der Begriff mansus (vgl. auch Mlat. Wb. 2, 841ff.) jedenfalls einen ganz bestimmten rechtlichen Geltungsbereich besass.

Dass das Wort in einen Flurnamen (Amasis) ĂŒbergehen konnte, scheint darauf hinzuweisen, dass es aus der mittelalterlichen lateinischen Rechtssprache auch ins frĂŒhe RĂ€toromanische ĂŒbergegangen war, wĂ€hrend es heute in Romanisch BĂŒnden gĂ€nzlich unbekannt ist (vgl. DRG 13, 23).

Vor diesem Hintergrund bleibt fĂŒr uns auch im Dunkeln, ob sich der Bedeutungsbereich von  mansin(s) soweit verallgemeinert hat, dass er sich auch auf LehengĂŒter der lokalen Kirchen beziehen konnte. FĂŒr eine genauere Absicherung wĂ€re da ohne breitere Untersuchung nicht auszukommen.

Sicher ist, dass die Kirche Grabs in der Gemeinde recht begĂŒtert war: Wie Winteler 1923 (S. 167) schreibt, waren die GĂŒter von 64 Haushaltungen ihr eigen; dazu kamen noch GĂŒltbriefe, ferner das ansehnliche Eigentum der Pfrund, das von seinem Inhaber, dem Pfarrer, direkt genutzt wurde.

Es bleiben also noch Detailfragen offen. AuffĂ€llig ist immerhin, dass im Raum Amasis heute noch ein Haus Höfli heisst (es ist vermutlich identisch mit dem 1735 erwĂ€hnten «Pfarr höfle», verweist also direkt auf das Kirchengut). So erscheint nicht unwahrscheinlich, dass auch diese deutsche Bezeichnung auf den hier angesprochenen rechtlichen Bereich (kleines Hofgut, Lehengut) verweist und hier möglicherweise als eine direkte Übersetzung von mansin aufgefasst werden kann.

Bemerkenswert ist schliesslich, dass ein Stallgut in Amasis ( «Waisenhusstall» genannt) zum landwirtschaftlichen Umschwung des Grabser BĂŒrgerheims gehört und damit zweifellos seit alters in Gemeindebesitz steht. Es kann sehr wohl als letzter Zeuge eines alten (herrschaftlichen oder kirchlichen) Lehengutes gelten.

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