«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Amasora

(Sevelen)

So heisst ein grosses, nordostwärts abfallendes Weidegebiet hinten am oberen Seveler Berg, am Oberberg, südlich des tiefen Taleinschnitts des Tobelbachs. Hoch über dem Seveler Hinderberg ansteigend, erstreckt es sich auf 1200-1400 m über Meer; über ihm liegt die Hochalp Inarin, zunächst mit dem Undersess genannt Chüesess. Amasora ist der nördlichste Abschnitt der Galtviehalp namens Seveler Wald. Die älteste urkundliche Form erscheint um 1560 mit «guot am seffellerbärg glägen gnampt masora». Um 1650 ist es dann «hans Püschen guet Amasorra». Es folgen im ganzen 17. und 18. Jh. weiterhin nur Formen mit A- (etwa 1671 Ammasoren, 1751 ammanssoren, 1801 Ammasoren). Wir kennen ja aus früher behandelten Fällen (siehe etwa: Amasis, Inggeriäls, Afasteig, Impelwiza) diese typisch werdenbergische Art, romanische Namen vorn mit A(n)- oder I(n)- zu erweitern.

Obwohl heute die Namensherkunft klar und mit Händen zu greifen vor uns liegt, lieferte der Fall doch unter den älteren Namendeutern viel Stoff für Spekulationen und Kopfzerbrechen. David Heinrich Hilty (bzw. sein Münstertaler Berater Thomas Gross) setzte 1890 für Amasora eine Herleitung aus «rom. Masera ‘Haushälterin’» an. Er tut dies ohne Umstände, aber auch ohne Erläuterung, die hier nicht nur mit Blick auf die in diesem Zusammenhang rätselhafte Bedeutung sehr nötig wäre, sondern auch hinsichtlich der ebenso fragwürdigen Verwandlung von Hiltys *maséra. Romanisch massera f. ‘Hausherrin, Hausfrau; Ehefrau; Alpgenossin’ geht als weibliche Variante auf mittellateinisch massarius ‘Landpächter’ zurück und gehört als Ableitung zu lat. massa f. ‘Fronhof’. Es fehlt hier nicht nur eine plausible sachliche Erklärung für dieses Wort aus der Rechtssphäre; in erster Linie steht der Deutung eben schon das formale Hindernis, aus masséra ein Masora zu machen, im Weg. Vom Vorschlag ist also gänzlich abzusehen.

Sevelerberg - am obersten Hinderberg. Blick vom Gebiet Gass aufwärts gegen Strich und Amasora. Im Hintergrund der Bergrücken von Inarin. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Wilhelm Götzinger pflichtete 1891 dieser These bei, und gleichzeitig erklärte er, dass «eine Verbindung monte de sura (sura = super ‘über’)» unwahrscheinlich erscheine … Woher er auf letzteres Thema kam, lässt er im Dunkeln; es wird indessen unten nochmals aufzugreifen sein.

Heinrich Gabathuler versucht es (1928 und 1944) mit dem mittellateinischen Rechtsbegriff mansura (auch masura) f. ‘Aufenthalt, Gastrecht; Haus, Wohnsitz; Hofstelle’ (auch ‘ein Flächenmass’). Er fügt dann allerdings bei, dass an Ort und Stelle Reste von Wohnstätten vollkommen fehlten – daher nimmt er an, dass der Name *Masura ursprünglich den weiter unten gelegenen Weiler Hüseren bezeichnet hätte: Nämlich Hüseren ‘bei den Häusern’ als etwa bedeutungsgleiche Übersetzung aus *Masura ‘Wohnstätte’! Er folgert weiter, der alte Name sei dann (nach der Verdeutschung des Weilernamens) an den dabeiliegenden Berggütern (eben Amasora) hängengeblieben. Offenbar allerdings hält auch er die Ansicht nicht für gänzlich unanfechtbar; jedenfalls liefert er noch einen weiteren Ansatz nach, der dann nach ihm auf die Alpwirtschaft Bezug nähme.

Gabathuler schlägt nämlich als Herkunftsbegriff weiter vor lat. mensura f. ‘das Messen, die Messung; das Mass (mit dem gemessen wird)’. Dieses will er mit dem früher auf den Alpen geübten Milchmessen in Zusammenhang bringen. In der Tat wurde noch bis ins 19. Jh. herein die Milch der Alpkühe nicht täglich gewogen wie heute, sondern es wurden an einem bestimmten Tag (beim sogenannten «Probemelken», engadinisch masüra, surselvisch mesira) die Milchkühe unter Mitwirkung und Aufsicht der Alpgenossen gemolken und die Melkerträge gemessen. Aus den Ergebnissen errechnete man dann den Anspruch des einzelnen Tierbesitzers am gemeinsamen Molkenertrag des Sommers. Der Volkskundler Richard Weiss hat in seinem Standardwerk «Das Alpwesen Graubündens», Erlenbach-Zürich 1941, S. 215ff.) dieses altertümliche Verfahren ausführlich beschrieben. Tatsächlich war auch im Werdenberg früher diese Mess- und Berechnungsweise üblich; Paul Hugger zitiert in seinem unvergesslichen Buch «Werdenberg. Land im Umbruch» (Basel 1964, S. 144f.) einen anschaulichen älteren Bericht dazu. Insofern ist Gabathulers Rückgriff auf diesen Sachzusammenhang keineswegs abwegig. Aber als Erklärung für den Namen Amasora taugt er dennoch nicht; denn dieser lässt sich sprachlich einfach nicht mit masüra zusammenbringen.

Beim Alpgebäude von Amasora, mit Blick rheintalabwärts. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Unterdessen hatte sich nämlich seit mehreren Jahrzehnten die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Namen des Typs Amasora auf romanisch munt sura ‘oberes Berggut’ beruhen. Valentin Vincenz hat die Deutung für den Seveler Namen dann erstmals 1983 in seiner Dissertation (zu den romanischen Namen von Buchs und Sevelen) formuliert.

Die Deutung ist unanfechtbar. Interessant ist im Fall von Amasora, dass im selben Gebiet heute auch die deutsche Bezeichnung Oberberg gebräuchlich ist, welche ja nichts anderes ist als die deutsche Übersetzung des altromanischen Typs Amasora (munt sura). Erwähnt sei hier auch noch dies: Da in der erwähnten Wortverbindung die Betonung auf sura liegt, geriet die Vortonsilbe munt- (im deutschen Gebrauch) in eine recht schwachtonige Stellung, was dazu führte, dass das einstige Kernwort munt zu mat- zusammenschrumpfte, gleich wie sich dies auch in Amatüe (Grabs), Amatnez (Sevelen), oder ähnlich in Mitätsch und Mitu (beide Triesenberg) beobachten lässt.

Also: Amasora und Oberberg bedeuten dasselbe. Eine Präzisierung ist hier allerdings noch anzubringen: Sie betrifft die Lautform des romanischen Namens. Eigentlich passt die «Normalform» (munt) sura nicht genau auf die Namensform (Ama‑)sora, denn eigentlich wäre dann ja, auch nach der Verdeutschung, ein *Amasura zu erwarten gewesen. Wie erklärt sich die Diskrepanz?

Hier hilft uns folgende Beobachtung, die eine besondere Lautentwicklung schon im Alträtoromanischen anvisiert: Gebietsweise, vor allem in Mittelbünden und bis herunter ins Sarganserland, im oberen Werdenberg und in Südvorarlberg, wird nämlich betontes lateinisches -o- in freier Stellung nicht zu -u-, wie sonst meist in Romanisch Bünden, sondern es entsteht ein Diphthong -ou- (oft auch -au-, -eu-). Daher Namen wie Gaua (Wartau), aus rom. cua, coua f. ‘Schwanz’, Gauschla (Wartau), zu rom. cusch, cousch m. ‘Stock’. Man kann das auch bei unserem Namentyp munt sura – oder dann eben munt soura – beobachten, der im Sarganserland zu Masaura (Wangs), Masauer (Flums) wird. In Sevelen ging die Entwicklung also ebenfalls von munt soura ‘oberes Berggut’ aus, das hier dann zu -sora vereinfacht wurde. Hieran war allerdings wieder eine deutsche Entwicklung beteiligt, vergleichbar mit mundartlich choofe ‘kaufen’, das seinerseits auf mittelhochdeutsch koufen zurückgeht, also dieselbe Lautvereinfachung («Monophthongierung») aufweist.

Das A- am Anfang können wir bereits als bekannt voraussetzen: Es handelt sich dabei um die vor vielen Jahrhunderten an den Namen angewachsene deutsche Ortspräposition an (an Masora > Amasora). Von ihr war, wie oben erwähnt, hier schon öfter die Rede (man nennt diesen Vorgang «Agglutination»).

Ganz am Schluss sei noch der Namensvetter Mazora in Triesen erwähnt, der diese Monophthongierung von -ou- zu -o- ebenfalls aufweist, nicht aber die Agglutination einer Präposition. Auffällig ist dort das -z- in Mazora (gegenüber -s- in unserem Amasora). Auch dazu ist eine Erklärung möglich. Hier liegt der Unterschied schon in der romanischen Grundform: Neben rom. munt soura (> Amasora) ist im Romanischen für ‘oben gelegenes Berggut’ auch eine erweiterte Form munt d’soura (lat. de supra, ital. di sopra) möglich; sie ist verantwortlich für das -ts- bzw. -z- in Mazora.

Damit ist das Wesentliche zu diesem Fall gesagt. Namensübersetzungen (wie die von Amasora zu Oberberg) fanden in der weit zurückliegenden Epoche der romanisch-deutschen Zweisprachigkeit sicherlich in massivem Umfang statt. Daneben mag die deutsche Form auch oft als spontane Neubildung (also ohne bewussten Bezug auf den romanischen Vorgängernamen, einfach aufgrund der gegebenen Natur- oder Kulturverhältnisse) entstanden sein. Es ist insofern ein kleiner Glücksfall, wenn wir die beiden gleichbedeutenden Bezeichnungen noch schön nebeneinander antreffen. In den meisten Fällen ist wohl die romanische «Vorlage» gar nicht mehr vorhanden, sondern durch die deutsche Form völlig ersetzt worden.

 

 Am Seveler Hinderberg. Blick von Amasora hinab auf das Berggut Boden3. Im Talgrund über der Bildmitte der Saxhof (Buchs), links hinten Buchs. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Zum Archiv