Wir kommen bereits zum fünfzigsten Teil unserer Serie «Name des Monats» - diese läuft demnach ohne Unterbruch seit über vier Jahren – wie lange ich sie noch weiterführen werde, wird sich weisen. Heute ist die Reihe am Namen Ermatin. Dieser bezeichnet eine längliche, abfallende Mulde in einer Waldlichtung zwischen Ansa und Geissberg, unweit oberhalb des Dorfes Sevelen, auf 540-600 m ü. M., an der südöstlichen Flanke des Hügels Ansa, unter dem Chlinberg und hinter Gastanells. Es gibt zu ihm einige urkundliche Belegformen, aber leider tun uns diese nicht den Gefallen, eine aussagekräftige ältere Entwicklungsstufe des Namens zu offenbaren.
Erstmals erscheint die Bezeichnung um das Jahr 1600 als ermattin, auf einem papierenen Doppelblatt unter dem Titel «Abtheilung der Nußbömmen Jhn dem holz» (offenbar die Abschrift einer Urkunde von 1456). Als «Holz» wurden früher gemeinhin die Waldweiden (Allmendweiden) der Ortsgenossenschaften bezeichnet; man denke in Wartau an Gretschinser Holz, Malanser Holz, in Grabs das Toggenhölzli, am Frümsner Berg das Holz, usw. Die Bezeichnung lebt auch südwestlich über dem Dorf Sevelen weiter, im Namen Usserholz, der das Waldgebiet südlich des Geissbergtobels umfasst und also ganz in der Nähe von Ermatin liegt. Weiter finden wir zu letzterem die urkundliche Nennung 1622 ÿn ermathin, ferner im Helvetischen Cataster von 1801 die Form Ermetin.
Ermattin, ermathin, Ermetin: Aus diesen drei Schreibungen sind nun wirklich keine grossen Erkenntnisse zur Namensherkunft zu gewinnen, entsprechen sie doch, abgesehen von ein paar unwesentlichen orthographischen Varianten, ganz der heutigen Sprechform.
Auf dem Weg nach Ermatin: von St.Ulrich herkommend, westseitig am Ansa vorbei, mit Blick auf die Ansawand. Bild: Werdenberger Namenbuch.
Major David Heinrich Hilty (1851-1915), unser werdenbergischer Namensammler, bzw. sein uns ebenfalls bereits bekannter Dienstkollege und Interpret, der Münstertaler Major Thomas Gross, dachte 1890 bei Ermeti(n) an ein italienisches eremitaggio ‘kleine Einsiedelei, Einsiedelung’, wozu er sich ein romanisches eremitin (sic) erfand. Dieser Vorschlag gehört allerdings in den Bereich der unmöglichen Laien-Wortakrobatik, und er ist auch sachlich eher an den Haaren herbeigezogen.
Auch Theodor Schlatter (1847-1918) hatte in seinem Büchlein «St.Gallische romanische Ortsnamen und Verwandtes» (1903) wenig Glück mit dem Versuch, unser Ermatin zu entschlüsseln, erfand er doch dazu ein lateinisches ager montaneus ‘Bergacker’. Der Ansatz scheitert nicht am Erstglied ager (das durchaus richtig zu romanisch èr m. ‘Acker’ wurde), sondern am zweiten Teil montaneus, der zwar in romanisch muntogna ‘Berg’ weiterlebt, sich aber formal mit unserem -matin überhaupt nicht vereinbaren lässt.
Die Lotterie geht weiter: Auch der Seveler Dorfarzt und Heimatautor Heinrich Gabathuler (1871-1955), der in seinen «Orts- und Flurnamen der Gemeinden Wartau und Sevelen» sich 1928 und dann nochmals 1944 mit dem Namen beschäftigte, sah in Ermatin einen ‘Bergacker’ – nur gab er ihm (um der tatsächlichen Form des Namens näher zu kommen) kurzerhand eine lateinische Grundlage ager montinus. Ihr hauptsächlicher Nachteil besteht nun darin, dass ein lat. montinus gar nicht existierte. So geht es also auch nicht.
Nun erscheint im wechselhaften Gelände, zwischen den Erhebungen Ansa und Geissberg, auf flachem Sattel, der Chlinberg; dahinter, von hier aus noch nicht sichtbar, fällt das Gelände über Ermatin gegen das Dorf ab. Bild Werdenberger Namenbuch.
Woher also stammt der Name? Die wahrscheinlichste Erklärung führt ihn zurück auf alträtorom. Air Martin, romanisch Èr Martin ‘der Acker des Martin; Martins Acker’ (aus lat. ager + Martinus).
Man könnte nun angesichts der heute sehr versteckten und abseitigen Lage der Örtlichkeit die Frage aufwerfen, ob hier wirklich einmal geackert worden sei. Dem wäre entgegenzuhalten, dass wir über die Wohn- und Lebensverhältnisse der Menschen vor tausend Jahren ja insgesamt nur wenig wissen, und dass wir auf jeden Fall solche Fragen nicht nach heutigen Massstäben beurteilen dürfen. Und zudem liegt Ermatin unmittelbar an der uralten und vormals lebhaft begangenen Berggasse (Ermatinweg), die seit unvordenklicher Zeit vom Stampf herauf kommt, an Ermatin und am Chlinberg vorbei führt und die Siedlungsgebiete am Seveler Berg erschloss – solange es noch keine Strassen gab. So gesehen, befand sich der Ort damals vielmehr fast in «zentraler Lage» ...
Vom Chlinberg aus blickt man westwärts gegen den stattlichen Hof, der bis Ende des 18. Jahrhunderts dem Kloster Pfäfers gehörte. Dahinter Täsche, Brueschenberg und Wiss Hüsli. Bild Werdenberger Namenbuch.
Eine formale Frage müssen wir aber klären: Wie konnte ursprüngliches Èr Martin zu -matin werden? Wie wir weiter unten sehen werden, ist in den entsprechenden Parallelfällen aus Romanisch Bünden das -r- in -martin ja durchwegs erhalten. Dort liegt eben für den romanisch Sprechenden der Zusammenhang mit dem vertrauten Personennamen Martin noch klar zutage, ist verständlich und darum lebendig geblieben. Anders in den verdeutschten Zonen: hier wurde nach dem Sprachwechsel der Ortsname nicht mehr «verstanden» in seiner Zusammensetzung; kaum jemand wusste mehr, dass in ihm der Personenname Martin vorlag. Daher waren solche Bildungen auch nicht mehr geschützt vor Entstellung. Die hauptsächliche Schwachstelle lag beim Namen Ermartin vor allem in der Nähe der zwei -r- zueinander: ihre rasche Aufeinanderfolge störte offensichtlich den alemannischen Sprecher und brachte ihn – natürlich unbewusst – dazu, für Ausspracheerleichterung zu sorgen. Diese bestand hier darin, dass das zweite -r- unterdrückt wurde (es war vor dem -t- ohnehin nur schwach artikuliert). Die gleiche Entwicklung verrät sich auch im vorarlbergischen Zwillingsnamen Armatin (Nüziders und Bludenz). Ebenfalls gleicher Herkunft, aber in etwas anderer jüngerer Fortentwicklung, ist Ärmiggin in Fideris, das urk. 1544 noch als Äyrmartgin bezeugt war. In Mumertí Vilters (< rom. munt Martín ‘Berggut des Martin’) wiederum ist das -r- erhalten, weil es hier eben nicht durch ein zweites -r- konkurrenziert wurde.
Das ist Ermatin, die versteckte, gegen das Dorf abfallende Mulde, gesehen vom Chlinberg herab (Blickrichtung gegen Nordosten). Bild Werdenberger Namenbuch.
Wenden wir uns nun noch dem Personennamen Martin und seinem kulturgeschichtlichem Hintergrund zu. Er war offenkundig in Rätien von alters her recht populär. Der Name des heiligen Martinus leitet sich ab von dem des römischen Kriegsgottes Mars; sein prominenter Träger war Bischof von Tours im 4. Jh.; dieser unternahm die Christianisierung Galliens, war der Begründer des abendländischen Mönchstums. Nach Maria und Petrus ist der Name Martin wohl das häufigste Kirchenpatrozinium Westeuropas (Patrozinium = Schutzherrschaft des hl. Martin über Kirchen oder Kapellen). Sein Namensfest fällt auf den 11. November (vgl. die Martinimärkte!). Man kann die Popularität des Heiligen ablesen an seiner Häufigkeit als Patrozinium sowie als Vorname (in der Tauftradition) und, aus diesen beiden Quellen gespiesen, als Element von Flurnamen.
Flurnamen, in denen der Personenname Martin vorkommt, lassen sich in ganz Rätien häufig finden (einschliesslich der Gebiete nördlich Graubündens, also auch bei uns) – als romanisch Martin ebenso wie auch als deutsch Marti(n): Acla Martín (‘Maiensäss des Martin’) in Disentis, Crap Martín (‘Martins Stein’) Waltensburg, Camartgín (‘Martins Haus’) und Praumartgín (‘Martins Wiese’), beide in Andiast, Pleun Martín (‘Martins Boden’) Ruschein, Ärmiggín Fideris (‘Martins Acker’), urk. 1371 Praw Martin in Chur. In Vorarlberg finden sich die Fälle Blöamatí(n) Tschagguns (urk. 1554 Pleinmartin, ‘Martins Boden’), Grapatín Schruns (urk. 1529 Grabmatin, 1582 Grapmarthin, ‘Martins Stein’). Auch nach dem Sprachwechsel bleibt Martin (nun als alemannisch Marti) ein häufiger Gast, wie man den folgenden Flurnamen entnehmen kann: Martisagger Gams, Martisboden Grabs, Martisbüel Sevelen, Martisguet Sennwald, Martismeder Sennwald, Martistöbeli Sevelen. Natürlich wissen wir nicht, um was für einen Martin es sich da jeweils handelte (wohl in jedem Einzelfall um einen anderen), zumal da Jahrhunderte zwischen der Entstehung der einzelnen Namen liegen können (Martisboden in Grabs etwa ist schon 1463 bezeugt). Aber Konkretes zur Identität der erwähnten Personen lässt sich kaum herausbringen. Anzunehmen ist, dass bei den jüngeren Flurnamen wohl mehrheitlich die Besitzer bzw. die Nutzer des betreffenden Gutes gemeint sind. Wo ein Ortsname sehr alt ist (namentlich wenn er aus romanischer Zeit stammt), wird da und dort auch der Kirchenheilige Martin (St.Martin) in Betracht zu ziehen sein. Das heisst, dass es sich bei solchen Gütern auch um einstmalige Kirchengüter handeln kann.
Zeugen des Heiligennamens finden wir in Geländenamen auch bei uns, wenn auch nur urkundlich überliefert, gerade auch in Sevelen: Dort sind ein †St.Martinsberg und ein †St.Martisbrunnen überliefert. Letzteren lokalisierte Heinrich Gabathuler (1944) an den Seveler Berg, beim Gut Geienberg; ob dies zutrifft, muss offenbleiben. Wo der †St.Martinsberg lag, ist gleichfalls ungewiss; es scheint, er sei am Seveler Berg zu suchen; möglicherweise besteht ein räumlicher Zusammenhang mit dem Martistöbeli oben am Hinderberg, zwischen Legi und Amasora, oder auch er gehört vielleicht in den Raum Geienberg. Für eine räumliche Verbindung mit Ermatin gibt es keine Hinweise.
Dass Ermatin in alter Zeit gar nicht abseits gelegen war, zeigt sich daran, dass die alte Berggasse vom Stampf herauf hier durch führte. Bild Werdenberger Namenbuch.
Auch in der Nachbargemeinde Wartau ist das Patrozinium bekannt: Der Ochsenberg, der Burghügel nordöstlich von Gretschins, nahe der Seveler Grenze, wurde älter auch als St.Martinsberg bezeichnet; erstmals belegt ist die Bezeichnung (nach) 1414 als sant marten berg, dann 1542 als sant marttisberg; spätere Nennungen (bis ins 18. Jh.) sind evtl. nur noch weitergeschleppte tote Abschriften; dass der Namenswechsel zu Ochsenberg etwas mit der Reformation zu tun haben könnte, lässt sich wohl vermuten, aber nicht belegen.
Hier galt das St.Martins-Patrozinium stets als Zeuge besonders frühen Christentums. Auf dem Ochsenberg wurden 1932 die Grundmauern eines Kirchleins freigelegt. Dieses hielt man zunächst für frühmittelalterlich und wohl fränkischen Typs; man fasste es lange auf als Teil eines Kirchenkastells. Sein Patrozinium wurde fraglos verbunden mit dem frühmittelalterlichen hl. Martin, der als der Nationalheilige der fränkischen Merowinger galt, unter welche unsere Gegend als Teil Rätiens um das Jahr 537 kam. In diesem Zusammenhang denkend, hat Jakob Kuratli das Kirchlein auf dem Ochsenberg zum ältesten Gotteshaus in Wartau erklärt (in seinem eindrücklichen Buch zur «Geschichte der Kirche von Wartau-Gretschins», Buchs 1950, S. 5).
Jüngere Forschungen haben allerdings ergeben, dass diese Annahmen hier wohl nicht stimmen. Denn die Funde gehören zu einem Bautyp, der in unserem Raum erst vom späten 12. Jh. bis in die Reformationszeit (und darüber hinaus) gut vertreten war; daher ist das Kirchlein auf dem Ochsenberg wohl erst ins Spätmittelalter zu datieren, und die Vergabe des Patroziniums wäre demnach nicht unmittelbar mit der frühmittelalterlichen Martinsverehrung zu verbinden (siehe zur Problematik ausführlich Martin Schindler in Werdenberger Jahrbuch 1994, S. 88-96). Auch Kuratlis Annahme, das Patrozinium sei dann vom Ochsenberg auf die Kirche Gretschins übertragen worden, wird von der jüngeren Forschung abgelehnt. Sicher ist nur, dass die Gretschinser Kirche anlässlich ihrer Weihung 1493 dem hl. Mauritius zugeeignet wurde; für ein älteres Martinspatrozinium fehlen hier jegliche Hinweise. Überhaupt wird vermutet, dass die grösste Verbreitung des Martinus-Kultes hierzulande (wie bei allen häufig angerufenen Heiligen) erst ins Hoch- und Spätmittelalter fällt (vgl. Konrad Huber, Rätisches Namenbuch, Bd. III, Teil 1, S. 392: «Es ist daher abwegig, jedes weltabgeschiedene Bergkirchlein, das dem Heiligen von Tours geweiht ist, als Zeugnis fränkisch-merowingischer Expansionspolitik anzusprechen.»).
Denkbar wäre, dass die hiesigen St.Martinsgüter einer auswärtigen Martinskirche angehört hätten; doch wissen wir dazu nichts Sicheres. Solche Kirchen (und Kapellen) gab es in der weiteren Umgebung vielfach: Allen voran die karolingische Martinskirche von Chur (6./7. Jh.), dann Kirchen in Cazis (7. Jh.), Ilanz, Disentis, Truns, Brigels (alle 765 erwähnt), Flims (9. Jh.), Zillis (940), Pitasch (960), und 15 weitere nach der Jahrtausendwende. Aus Unterrätien kommen noch weiter dazu: Nidberg (Mels), Calfeisen (Pfäfers) und Eschen FL. Von den primären Zentren des frühmittelalterlichen Martinskultes ausgehend wurde dieser eben auch in späteren Jahrhunderten lokal weiterverbreitet. Nach Schindler (S. 94) soll etwa die Hälfte der Martinspatrozinien aus dem Frühmittelalter stammen, der Rest aber aus dem Hoch- und Spätmittelalter.
Das heisst nochmals zugleich, dass auch keineswegs alle Martin-Flurnamen mit dieser frühen Zeit in Verbindung gebracht werden können, und dass überhaupt nicht stets ein kirchlicher Zusammenhang bestehen muss.
Auch für unser Ermatin bleibt mangels entsprechender Überlieferung gänzlich offen, ob der in ihm enthaltene Personenname auf ein Kirchengut verweisen könnte, oder ob dieser einfach den einstigen Besitzer benannte. Gewiss ist nur, dass der Flurname und auch die in ihm verewigte Person in die ferne Zeit zurückreicht, da man in Sevelen noch romanisch sprach.
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