«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Falisär

(Sevelen)

Heute begeben wir uns in die Alp ImalschĂŒel. Diese bildet im tiefen Einschnitt zwischen Buchser und Seveler Berg eine riesige Hangmulde, die von den Gipfeln Fulfirst, GĂ€rtlichopf, Chrummenstein und Chlin Alvier nach oben abgeschlossen wird. Obgleich ganz auf Seveler Territorium liegend, gehört die Alp seit alters der Buchser Ortsgemeinde. EntwĂ€ssert wird sie durch die BĂ€che Altsessbach, Schwarzen BĂ€ch und Inggarnolbach, die sich unten im Alpgebiet trichterförmig vereinigen und in das Tobel des Tobelbachs nordostwĂ€rts auslaufen. Ganz im SĂŒden dieses grossen Trichters, etwa 550 m sĂŒdlich der ImalschĂŒeler UndersesshĂŒtte, von der Rindlihalde zum Schöntobel ansteigend, liegt FalisĂ€r, auf rund 1450-1550 m: Eine langgezogene Mulde im Steilhang zwischen dem Inggarnolbach und dem sĂŒdlichsten Arm der Schwarzen BĂ€ch, die ostseitig flankiert wird von der Breitegg und den Roten Platten, am Fuss des wilden Felsabbruchs namens Inggarnol. Über diesem dehnt sich, weithin sichtbar, die Alp Inarin aus.

Dass der Name FalisĂ€r nicht deutsch ist, ist ihm leicht anzusehen: romanische Betonung auf der letzten Silbe, auch sonst hĂ€ufig vorkommend der Anlaut Fal- wie auch die Endung -Ă€r. Was findet sich zu diesem Namen in der Literatur? Der Seveler Dorfarzt und Namenkundler Heinrich Gabathuler (den wir schon im Artikel zum Seveler GelĂ€ndenamen Federen kennengelernt haben) hatte eine Vorliebe fĂŒr spekulative RĂŒckgriffe auf eine indogermanische Ursprache. Mit dieser schaltete er in Namenfragen recht ungeniert, kombinierte hypothetische Wortwurzeln mit jĂŒngeren Sprachelementen, so wie es ihm passend erschien. Den Namen FalisĂ€r wollte er in der ersten Ausgabe (1928) seines BĂŒchleins ĂŒber die Orts- und Flurnamen von Wartau und Sevelen zurĂŒckfĂŒhren auf ein indogermanisches Wortelement fal-, fel- («mit der Bedeutung ‘breit sein’»), und diesem Element hĂ€ngte er eine lateinische Endung ‑ariu (heute: ‑Àr) an (wobei diese Endung «Sammelbegriffe» bezeichne). In der zweiten Auflage seines BĂŒchleins (1944) kam er von diesem Vorschlag ab; hier stellt er nun den Namenanlaut Fal- zu romanisch val ‘Tal’, wiederum mit der Endung -ariu.

Nun - beide AnsĂ€tze kann man nicht gelten lassen. Der erste ist auf den ersten Blick als aussichtsloses laienhaftes Konstrukt erkennbar. Der zweite lĂ€sst sich zwar weniger weit auf die Äste der reinen Spekulation hinaus, kann aber den lautlichen Voraussetzungen auch nicht genĂŒgen - denn mit val + -ariu bliebe die Silbe -is- in der Mitte ganz unerklĂ€rt.

Blick auf die Alp ImalschĂŒel; im Mittelgrund links die GebĂ€ude des Undersess. FalisĂ€r liegt im Hintergrund links im Schatten. - Bild: Hans Jakob Reich.

In seiner Dissertation zu den romanischen Namen von Buchs und Sevelen (1983) hat Valentin Vincenz zu diesem Fall neue AnsĂ€tze vorgebracht. Zu Recht als wenig wahrscheinlich erachtet er eine romanische Zusammensetzung *val ursera ‘BĂ€rental’; sie passt nicht zur heutigen Namensform, und sie wĂ€re auch von der GelĂ€ndegestalt her (kein Taleinschnitt!) nicht ĂŒberzeugend. Vincenz erwĂ€gt weiter noch einen Zusammenhang mit romanisch aschier ‘Ahorn’ (etwa als *Val aschier), doch hĂ€lt er auch diesen fĂŒr problematisch, was man nur bestĂ€tigen kann.

Am wahrscheinlichsten ist nach Vincenz die Herleitung des Namens FalisĂ€r vom vorrömischen Pflanzennamen *alausa ‘Traubenkirsche (Prunus padus)’, der in engadinisch alossa, surselvisch laussa, weiterlebt. Die Wortableitung auf -ariu lautet engad. alossĂšr, surselv. lussĂšr; sie bezieht sich auf Orte, wo die Traubenkirsche wĂ€chst. Hier lĂ€sst sich nun unser Name zwanglos anfĂŒgen: FalisĂ€r ist aus einer deutsch-romanischen Verbindung uf AlisĂ€r hervorgegangen, indem sich das -f von mundartlich uf mit ursprĂŒnglichem AlisĂ€r verbunden hat: also wurde daraus uf FalisĂ€r. Mit dieser ĂŒberzeugenden ErklĂ€rung kann die von Vincenz ebenfalls als Reserve noch in Betracht gezogene Verbindung *val (a)lossĂšr ‘Tal mit TraubenkirschenbestĂ€nden’ als ĂŒberflĂŒssig ausgeschieden werden.

Von der Traubenkirsche (Prunus padus L., franz. mĂ©risier Ă  grappes, bois-puant, ital. pado) heisst es im bekannten Referenzwerk «Flora Helvetica» (unter Nr. 1073-1074): «Bis 10 m hoher Strauch oder Baum, BlĂ€tter breit-lanzettlich, 5-10 cm lang, fein und gleichmĂ€ssig gezĂ€hnt. BlĂŒten gleichzeitig mit den BlĂ€ttern entwickelt, weiss, in meist ĂŒber 10blĂŒtigen Trauben. Frucht kugelig, schwarz, glĂ€nzend, mit grubig gefurchtem Steinkern.» WĂ€hrend die Traubenkirsche der Subspecies Padus in tieferen Lagen verbreitet stockt (AuenwĂ€lder, WaldrĂ€nder, kollin-montan), findet sich die Subspecies Prunus padus petraea, die «Felsen-Traubenkirsche», in höheren, kollin-subalpinen Lagen. Diese letztere Subspecies ist es, die hier, in ImalschĂŒel, in Frage kommt. Heinrich Seitters «Flora des FĂŒrstentums Liechtenstein» weist sie fĂŒr sonnige Gebirgslagen Liechtensteins, von 1550 bis 1800 m ĂŒ. M., nach. Seine Angaben zur Verbreitung gelten sinngemĂ€ss auch fĂŒr Werdenberg; sie passen genau zur Lage unseres Namengebiets.

Aus: Flora Helvetica, S. 568-569: Die Darstellung der Traubenkirsche mit ihren Unterarten.

Zum Schluss noch eine Bemerkung ausgehend von der oben gestreiften französischen Bezeichnung bois puant, was ja wörtlich ‘Stinkholz’ bedeutet. Es gab im Werdenberg (gemĂ€ss Idiotikon 1, 568) in der Ă€lteren Mundart auch den Pflanzennamen Stink-Esch (bzw. Stingg-Esch); dieser soll sich aber gemĂ€ss der genannten Quelle nicht auf die Traubenkirsche beziehen, sondern auf die Eberesche, also den Vogelbeerbaum (Sorbus aucuparia, siehe Flora Helvetica Nr. 1147), dessen Frucht (eine mehlige Scheinbeere) bekanntlich leuchtend rot ist. Der Name Stink-Esch soll (nach Idiotikon) «wegen des scharfen Geruches der Rinde» aufgekommen sein. Der Bezeichnung bois puant fĂŒr die Traubenkirsche wird eine Ă€hnliche Beobachtung zugrundeliegen.

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