«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Gamschol

(Gams)

Das Gebiet dieses Namens, Weide- und Wiesland, liegt zwischen Gasenzen und Sax, beidseits des Gasenzenbachs – dort, wo die Gemeinden Gams und Sennwald zusammenstossen. Es ist meist eben, teils auch leicht ansteigend, grenzt südwärts an Usserbach und Brugg, ostseitig an Fuesswasser und Chäsere, nördlich an den Züelbach, aufwärts an Hülsch, Geissbüel und Zellersbüel. Hierher wallfahren die Gamser am Auffahrtstag in feierlicher Prozession, um sich die «Stockpredigt» anzuhören und der Glaubenstreue ihrer Voreltern zu gedenken, die hier – wie es die fromme Überlieferung will – in der Reformationszeit nur dank den Ermahnungen eines alten Mannes nicht vom alten Glauben abfielen. An dieser Stelle wollen wir uns allerdings nicht mit jenem idealisierten Geschehen befassen – dazu lässt sich in Werdenberger Jahrbuch 2013, S. 214, nachlesen. Uns geht es hier um das Namenwort Gamschol.

Dieses wird hierzulande als Gamschoel gesprochen. Der Grund dafür liegt darin, dass in den Werdenberger Mundarten langes, geschlossenes -o- normal zu -oe- «gebrochen» wird (roet, groes, Roese, usw.). Dieser alemannischen Lautentwicklung waren auch die aus der romanischen Epoche übernommenen Wörter und Namen ganz selbstverständlich ausgesetzt, stellten sie doch eigentliche Fremdkörper im Alemannischen dar, die nach Kräften lautlich integriert wurden. So hat sich die Brechung des -o- auch in den folgenden Namen eingebürgert (das geschriebene -o- ist also stets als -oe- zu lesen): Falpalos, Fanola, Fergrolis, Gamscholis, Milschona (in Wartau), Falferor, Portnol (in Sevelen), Frol (in Buchs, Gams, Sennwald), Frola (in Grabs).

Unter den eben erwähnten Namenbeispielen sticht hier das Wartauer Gamscholis hervor: Hier ist die Verwandtschaft mit unserem Gamschol ja offenkundig. Überhaupt scheint der betreffende Namentyp auch anderweitig öfter vorzukommen. Die Vermutung veranlasst uns, den Blick noch etwas auszuweiten. Und tatsächlich: Er erscheint mehrfach auch in Südvorarlberg: †Gamschola (Schnifis), Gamschola (Nenzing, Schlins und Dünserberg), †Gamaschola (St.Gerold), †Gamschula (Röns). Und hierher gehört auch das bündnerische Camischolas (in Tujetsch und Siat), auch als Camascholis in Schiers und als Gimischola in Seewis. Hinter den Namen mit Schluss-s steht eine altromanische Mehrzahlform campbiescholas, die dann zu camischolas vereinfacht wurde. In Gamschola sowie in unserem Gamschol (Gams) dagegen ist eine Einzahlform camischola (ohne -s) zu sehen; das Schluss-a ist in Gamschol nach der Verdeutschung abgefallen, was hier nicht unüblich ist (gleich wie etwa auch in Grabs Gamperfin aus camp rovina).

Was steckt sprachlich und sachlich hinter unserem Namentyp? Gamschol(a) und Gamscholis sind Verkleinerungsformen (mit der Endung -ola) zu altromanisch camp biescha ‘Schafweide’, dieses aus lateinisch campu (de) bestia. Hier fällt das altromanische Wort biescha auf. Sein Vorfahre, lateinisch bestia, bedeutet ‘Tier im allgemeinen’, auch ‘wildes, reissendes Tier’. Doch bei den Romanen der Frühzeit war sicher nicht ein wildes Tier gemeint, sondern vielmehr das Nutztier Schaf.

Das Gebiet Gamschol nördlich von Gasenzen, an der Grenze gegen Sax. Hinten rechts erkennt man den Saxer Kirchturm. - Bild: Hans Jakob Reich.

Im Bündnerromanischen lebt bestia ‘Tier’ bis heute weiter als engadinisch besch m. ‘Schaf’ (kollektiv la bescha ‘die Schafe’) und als surselvisch biestg ‘Rind’ (kollektiv la biestga ‘das Vieh’). War bestia also ursprünglich das ‘Tier im allgemeinen’, so grenzte sich im Alpenraum das Wort zunächst ein auf das ‘Schaf’, also auf jenes Tier, mit dem im Frühmittelalter die Lebensbedingungen der Bevölkerung am stärksten verbunden waren. Bis zum 12./13. Jh. überwog im Berggebiet nämlich noch die Kleinviehhaltung. Erst gegen Ende des Hochmittelalters nahm dann auch die Kuhhaltung zu. Dabei galt die kollektive Bezeichnung la bescha (la biestga) der Schafherde als Ganzem, auf die sich ja die Existenz des Bergbauern gründete. Die Bezeichnungen für das einzelne Tier (biesch, besch, biestg) wurden dann nachträglich aus der kollektiven Form hergeleitet.

Dass das Schaf einmal das vorherrschende Nutztier war, geht auch aus der romanischen Bezeichnung für den ‘Stall’ hervor: surselvisch nuegl und engadinisch uí ist heute der ‘Viehstall’ im allgemeinen – doch gehen diese romanischen Wortformen auf lateinisch ovile ‘Schafstall’ (zu lat. ovis ‘Schaf’) zurück! Auch dies ein Beleg für eine Zeit, da das hauptsächliche Nutztier das Schaf war und somit unter einem Stall zunächst von selbst ein Schafstall verstanden wurde! Wer sich übrigens für die Entwicklung der Viehwirtschaft im Alpenraum interessiert, dem sei das Werk «Zur Besiedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens im Mittelalter» (Chur 1982) von Martin Bundi warm empfohlen (Bundi 1982, hier namentlich S. 549ff.).

Auch in Deutschbünden und Unterrätien muss la biescha zur kollektiven Bedeutung ‘die Schafe’ gelangt sein, wie aus dem hier besprochenen Namentyp und dessen Verbreitung hervorgeht. Denn es unterliegt keinem Zweifel, dass auch hier unter Gamschol(a) nur eine eingegrenzte Bedeutung ‘Schafweide’ (und nicht ‘Tierweide’ im allgemeinen) zu verstehen ist.

Der Vollständigkeit halber seien noch die Formen engadinisch bes-cha f. ‘Tier’ und surselvisch bestga ‘Tier, Bestie’ erwähnt: Sie sind gleicher Herkunft, aber (gegenüber besch, biesch) jüngere, halbgelehrte Entwicklungen, die sich wiederum an lateinisch bestia orientierten.

Nun ist noch das Verhältnis der Grundform altromanisch campbiescha ‘Schafweide’ zur Verkleinerungsform *campbieschola ‘kleine Schafweide’ näher zu betrachten. Denn dieses enthält eine gewisse Eigentümlichkeit. Es fällt nämlich auf, dass in der Wortgruppe camp d’biescha ‘Schafweide’ die Endung -ola zur Bildung der Verkleinerungsform nicht an camp angefügt wird, wie es logisch wäre (denn «verkleinert» wird ja das Feld, nicht das Schaf!), sondern dass sie am Schluss der Wortgruppe steht. Das bedeutet, dass campbiescha damals bereits in starkem Masse als begriffliche Einheit, als ein Wort, wahrgenommen wurde, also gar nicht mehr als Zusammensetzung zweier freier Elemente – ein weiterer Beleg dafür, dass sowohl die Sache (Schafweide) wie auch der Begriff (campbiescha) damals überaus alltäglich und wirtschaftlich von zentraler Bedeutung waren.

Nachgetragen sei hier noch, dass campbiescha auch im Wartauer Namen Falggapiest weiterlebt: val (d’) campbiesch(a) ‘Tal mit Schafweide’, und dass auch der Dorfname Gams, bzw. dessen im Jahr 835 als Campesias erwähnte Urkundform, dasselbe Grundwort enthält. Dieses Campesias war zweifellos anfänglich noch nicht Dorfname, sondern ein blosser Flurname. Der Übergang vom Flurnamentyp Campesias zum verkürzten Ortsnamentyp Campis/Gams lässt sich aus der urkundlichen Überlieferung des Namens nicht dokumentieren. Es muss dort - in Zusammenhang mit der Dorfgründung - ein Bruch in der Überlieferung stattgefunden haben, doch spielte sich dieser Verlauf im Dunkel der Geschichte ab, das die vorhandene Dokumentation nicht zu erhellen vermag.

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