«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Hinrigmäl

(Grabs)

So heissen zwei MaienberggĂŒter in einer grossflĂ€chigen Waldlichtung zuoberst am vordersten Grabser Berg, auf 1100 m Höhe unweit der Strasse in die Voralp, sĂŒdöstlich vom Brunnenrietrangg, also oberhalb von Guferen und unter dem Waldgebiet Chalchofen. Es ist eine unten flach auslaufende, auffĂ€llig glatte, nach oben etwas steilere WiesflĂ€che, eingelassen in der Senke zwischen dem nordwestwĂ€rts ansteigenden Grabser Berg und der sĂŒdöstlich jĂ€h sich auftĂŒrmenden Flanke des Studner Bergs, genannt Cherhalde, die ĂŒber die Spitzigen Chöpf zur Hochalp Gampernei ansteigt. Der Name HinrigmĂ€l weist einige Eigenheiten auf: Geschrieben wurde er 1463 als LidmĂ€l, 1630 hiner ligmael, 1691 LidmĂ€l und HinderligmĂ€l, 1755 Hinterem GmĂ€hl, 1770 Hindereck GmĂ€l, 1794 Hinter GmĂ€hl, 1801 HinterlegmĂ€hl. Die Ă€lteste Schreibform LidmĂ€l ist noch heute im amtlichen Gebrauch bekannt (sie wurde als Schreibform ĂŒber die Urbarien bis in die Neuzeit konserviert). In der auf der letzten Silbe betonten heimischen Sprechform «HinnerigmÀÀl» ist eine (vermeintliche) lautliche Anlehnung an den Weilernamen «Hinneregg» (nĂ€mlich Hinderegg am hinteren Grabser Berg) herauszuhören (schon 1770 wirkte sich diese auf die Schreibung aus). AuffĂ€llig ist der mundartliche Gebrauch unseres Namens; es heisst: «dort ist HinrigmĂ€l», «man geht HinrigmĂ€l», «man ist HinrigmĂ€l», «man kommt von HinrigmĂ€l». Das erinnert ganz an die hierzulande verbreitete Namengruppe des Typs Amadang oder Ischlawiz, die auch nach diesem Muster gehandhabt werden («man geht Amadang», «man ist Amadang», «man kommt von Amadang», usw.).

Werfen wir zunĂ€chst einen Blick auf das, was Ă€ltere Autoren zu dem Fall gesagt haben. Der uns schon öfter begegnete Lokalhistoriker David Heinrich Hilty hat vor 130 Jahren, assistiert von seinem MĂŒnstertaler Dienstkollegen Thomas Gross, viele romanische Werdenberger Orts- und Flurnamen zu deuten versucht. Mit dem Namen LiggmĂ€l (er schrieb ihn so) kam er nicht viel weiter. Zum einen versetzte er ihn an den Studner Berg, was nicht stimmt, und zum anderen ist sein ErklĂ€rungsversuch ganz untauglich.

Er vermutet in ihm den bĂŒndnerromanischen Ausdruck licmelg, latmilg ‘Nidel’ (im Engadin als latmilch, im Oberhalbstein als latgmeltg m. ‘Schlagrahm’ gebrĂ€uchlich). Man sieht auf den ersten Blick, dass der Vorschlag nur ein Verlegenheitsprodukt darstellt, denn nicht nur wĂ€re der Begriff als Flurname schwer vorstellbar – man weiss daneben auch, dass das fragliche Wort selber aus dem Alemannischen ĂŒbernommen worden ist: Noch zu meiner Jugendzeit war am Grabser Berg der Ausdruck Luggmilch f. fĂŒr 'Nidel' bei der Ă€lteren Generation wohlbekannt (neben jĂŒngerem gschwungne Nidel). Mein alter Nachbar Peter Zogg («dr Hof HĂ€nnise BeĂ€ter», 1883-1971; vgl. Werdenberger Jahrbuch 1997, 154) hat mir (in einem um 1965 auf Tonband festgehaltenen GesprĂ€ch) ĂŒber das Leben in seiner Jugendzeit berichtet. Er wusste von einem Brauch der ledigen Jugend zu erzĂ€hlen, der darin bestand, dass man in geselliger Runde von den Teilnehmenden mitgebrachten Rahm schlug und diese lĂ€ndliche Delikatesse dann gemeinsam verzehrte: «Mǝ ischt denn gǝ luggmilchlǝ», meinte er – und auf meine ahnungslose Frage, was das denn sei, erklĂ€rte er: «Jo mǝ hǝt dǝnn Ruum gchloggǝt, bis ǝr tigg gsiin ischt, unn hǝt ǝ dǝnn ǝsǝbǝweeg ggessǝ!» Der Ausdruck, der schon im Mittelalter als luckmilch bekannt war, ist weitverbreitet: als Luggmilch in der Ostschweiz, in GraubĂŒnden und in Vorarlberg, als Luppmilch in Tirol. Aus dem Deutschen gelangte er auch ins BĂŒndnerromanische und sĂŒdwĂ€rts darĂŒber hinaus nach Italienisch BĂŒnden sowie nach Oberitalien (wo er noch weitere VerĂ€nderungen erlitt, als ital. lattemiele ‘panna montata’ sogar mit ital. latte ‘Milch’ und miele ‘Honig’ gekreuzt wurde). Als ErklĂ€rung fĂŒr unseren Maienbergnamen kommt er aber sicherlich nicht in Frage, weshalb wir diesen Exkurs hier abschliessen.

Das obere der zwei BerggĂŒter von HinrigmĂ€l. Links aussen steigt das GelĂ€nde unvermittelt jĂ€h gegen die Cherhalde (Gampernei) an; rechts der geheueten, flachen Bergwiese beginnt das steinige Waldgebiet Guferen. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Was lĂ€sst sich zum Namen HinrigmĂ€l aber Nachhaltigeres sagen? ZunĂ€chst soviel, dass der Fall offensichtlich etwas verwickelt ist. Aus der eingangs erwĂ€hnten mundartlichen Verwendung des Namens lĂ€sst sich schliessen, dass das einleitende Hin- in Wirklichkeit die OrtsprĂ€position in- enthĂ€lt, er also ursprĂŒnglich in RigmĂ€l (oder in LidmĂ€l) hiess. (Man kennt diesen H-Vorschlag etwa auch vom Alpnamen Inarin her, der ja bekanntlich volkstĂŒmlich als Hinarii ausgesprochen wird.)

Unsere Namensform lÀsst sich also zunÀchst aufgliedern: a) in einen alten, sicher nicht-deutschen Namenstamm (den wir als LidmÀl oder RigmÀl annehmen), und b) die davorgesetzte deutsche OrtsprÀposition in, die sich in unserer Gegend gerne mit dem eigentlichen Namen fest verbindet.

Geschichte und Bedeutung dieser eigentĂŒmlichen und sprachgeschichtlich bedeutsamen Verschmelzung kann auf dieser Website nachgelesen werden (unter https://www.werdenberger-namenbuch.ch/werdenberg/sprache/vom-romanischen-zum-deutschen/deutsche-ortspraeposition-verbunden-mit-romanischen-namen/); hier soll sie uns nicht weiter aufhalten.

Wenn dies einmal erkannt ist, dann können uns urkundliche Formen wie 1630 hiner ligmael, 1691 LidmĂ€l und HinderligmĂ€l, 1755 Hinterem GmĂ€hl, 1770 Hindereck GmĂ€l, 1794 Hinter GmĂ€hl, 1801 HinterlegmĂ€hl nicht mehr irrefĂŒhren: In das ursprĂŒngliche in RigmĂ€l (in LidmĂ€l, in LigmĂ€l) bzw. hin Rig- mischte sich - wegen der lautlichen NĂ€he - auch das deutsche hinter (mundartlich hinner) ein und schuf eine Reihe von Spielformen, die nun gar (aber ohne jeden sachlichen Zusammenhang) auch den Weilernamen Hinderegg am hinteren Grabser Berg ins Spiel brachten. Diesen Hang zu sekundĂ€ren Wucherungen können wir, nachdem wir ihn erkannt haben, nun wieder abbauen, und wir stellen damit einen romanischen Namenkern fest, der von deutschen SekundĂ€reinflĂŒssen noch einigermassen frei zu sein scheint: es ist das alte LidmĂ€l von 1463, das wir seit Beginn der schriftlichen Überlieferung vor uns hatten. Mehr wissen wir zunĂ€chst noch nicht, aber immerhin sind uns so wenigstens die spĂ€teren Fortentwicklungen klarer geworden.

Blick auf die flache Bergwiese von HinrigmÀl, von den Maienbergen (s GrÀslis Weid, ob der Chalthusweid) her gesehen. Bild in H. Stricker, Das Urbar der Gemeinde Grabs 1691, S. 169*.

Wie aber ist dieses LidmÀl zu verstehen? In meiner Dissertation habe ich 1974 zum Namen eine ErklÀrung vorgeschlagen, welche ich noch immer als plausibel betrachte, auch wenn die Beweiskette sich nicht in jeder Beziehung völlig schliessen lÀsst. 

Es handelt sich um folgenden Gedankengang: Die Waldlichtung von HinrigmĂ€l fĂ€llt (siehe obiges Bild) in ihrer waldigen, entweder extrem steilen oder aber sonst steinig-unebenen Umgebung (BergsturztrĂŒmmer im Guferenwald!) frappant auf durch ihre ebenmĂ€ssige, kultivierte FlĂ€che, die offensichtlich seit langer Zeit gemĂ€ht und geheuet wird und daher sicherlich stets auch gedĂŒngt wurde. Das unten folgende Bild zeigt, wie noch im 20. Jahrhundert dort der DĂŒnger auf dem ZweirĂ€derkarren (der «Binne») durch Zugtiere (nĂ€mlich Rinder oder KĂŒhe im Hornjoch, die sogenannte «Miini») ausgebracht wurde. So war es zweifellos schon vor Jahrhunderten.

Das altromanische Wort fĂŒr ‘Mist, DĂŒnger’ ist ladĂŒm m. (engadinisch aldĂŒm, surselvisch ladem). Es geht auf lat. *laetumen, Nebenform zu laetamen n. ‘DĂŒnger’ zurĂŒck, das auch in gleichbedeutendem ital. letame m., sardisch ledamene m. weiterlebt. Zu diesem Wort gibt es die Ableitung lat. *laetum-ariu m. fĂŒr ‘Miststock, DĂŒngerhaufen’, das engadinisch aldĂŒmer, surselvisch lidimer, ital. letamaio m. ergab. Man kann also auch fĂŒr das Altromanische unserer Gegend eine Wortform *ladĂŒmer 'Miststock' ansetzen. Auf diese Grundform möchte ich unser LidmĂ€l (spĂ€ter RigmĂ€l) zurĂŒckfĂŒhren. In lautlicher Hinsicht geht das leicht: *ladĂŒmer wurde (nach dem Sprachwechsel zum Deutschen) zusammengezogen zu *Lad’mer (> *LidmĂ€r), und das -r am Schluss wurde dem L- am Wortanfang angeglichen (> LidmĂ€l).

Wie schon angefĂŒhrt, ist die Annahme, dass diese auffĂ€llig schöne und glatte MĂ€hwiese – die einzige dieser Art in der weiteren Umgebung – schon vor tausend Jahren entsprechend genutzt und gedĂŒngt wurde, auch sachlich durchaus naheliegend.

Die einzige offene Stelle in der BeweisfĂŒhrung liegt darin, dass fĂŒr das Wort lat. *laetum-ariu m. und seine romanischen Nachfolger sonst einzig die Bedeutung ‘DĂŒngerhaufen, Miststock, Mistgrube’ nachweisbar ist, wĂ€hrend wir fĂŒr unseren Maienbergnamen eine etwas andere Bedeutung, nĂ€mlich ‘Fettwiese’, eben: ‘mit Mist gedĂŒngte Wiese’ (als Gegensatz zu ‘magere Bergweide’), ansetzen möchten. Die entsprechende Bedeutungserweiterung lĂ€sst sich eben (meines Wissens) anderswo nicht nachweisen. Dessen ungeachtet scheint mir diese EinschrĂ€nkung den Ansatz nicht ernsthaft in Frage zu stellen. Wir mĂŒssen uns einfach mit der etwas vageren, aber immer noch einleuchtenden Vorstellung begnĂŒgen, der Name LidmĂ€l beziehe sich auf den DĂŒngerhaufen, bzw. auf die DĂŒngung, die in einer sonst eher unwirtlichen Umgebung hier sicher auffallen musste. 

Mathias Vetsch-Stricker, "dr Stutzis Tiis" (1919-2007) beim Mistausbringen in HinrigmĂ€l. Rinder, die sich zum Ziehen im Hornjoch eigneten, wurden gerne auch als KĂŒhe weiter dazu verwendet. Diese Art der Beförderung wurde am Grabser Berg in den 1950er Jahren aufgegeben. Bild in Werdenberger Jahrbuch 1997, 151.

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