«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Hirschere

(Gams)

Am Gamser Hinderberg, schräg unter dem Weiler Chretzibach, hoch über Bruedermäl, befindet sich das Wiesland dieses Namens. Es breitet sich aus hinter einer Mulde, durch welche die alte Gasse aus dem Dorf heraufführt, auf einer Geländeverflachung und auf der Sonnenseite der Erhöhung; etwas weiter nördlich, hinter der abfallenden Hügelkuppe, liegt Strubenhus. Neben dem älteren Namen «i der Hirschere» ist heute eher die leicht abgewandelte Bezeichnung «i de Hirschenen» gebräuchlich. Was steckt im Namenstamm? Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätte der Name etwas mit dem Geweihträger, dem Hirsch, zu tun. Bleibt es dabei?

Wenn wir uns bei der Wahl der Schreibform für das ältere «Hirschere» entschieden haben, dann vor allem darum, weil der Name bereits im Gangbrief von 1462 mit dem -r- erscheint. In dieser für die Geschichte von Gams so wichtigen Quelle ist auf der zweiten Seite die Rede von den Gassen, die seit uralten Zeiten das Berggebiet aufwärts und in der Quere durchziehen. Es heisst dort (ab Zeile 24), offenbar über das Gebiet am Hinderberg im Raum Tobel-Wanne-Strubenhus: «Jtem aber sol vss der ob genanttn lantstrảß gản ain ander eweg ǀ krủtz wiß ủber die ebni hin jn das Tobil vnd vnder dem Erlen ǀ hin vss durch die Hirscheren hin vß vnder Jörgen Rủtti hin uß gen ǀ Strubahuß vnd denn hin ab jn die Vorburg vnd sỏl der selb ǀ nủn schue wit sin mit buw jn vnd vss vnd sol sust ain fůss ǀ weg sin ủber jảr». Soweit der Gamser Gangbrief in diesem Zusammenhang. Diese Quergasse kreuzte sich also mit der vom Dorf ansteigenden Berggasse.

Der Betrachter steht unter dem Chretzibach und blickt nordwärts. Hinter der Hügelkuppe mit dem Stall, von hier aus nicht zu sehen, der Weiler Strubenhus. Rechts im Bild begintt die Geländeverflachung des alten Ackerlandes namens Hirschere. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Das Netz von Gassen, das unsere dicht besiedelten Berghänge erschloss, ist uralt. Wenn dabei vor 560 Jahren von «Landstrassen» die Rede war, dann sind damit steingepflästerte, von Zäunen oder meist Mauern gesäumte, aber recht breite Gassen gemeint – von Strassen im modernen Sinn war damals im Berggebiet noch keine Rede. Diese Gassen mussten befahren werden können, waren also auch stets gut unterhalten (sicher besser als heute), denn es heisst im Gangbrief ja ausdrücklich, dass die besagte «Landstrasse» neun Schuh weit, also gut drei Meter breit sein müsse. Hier mussten Zugtiere und ihre Gefährte Platz finden; hier musste man (wie es oben hiess) «mit buw jn vnd vss», also mit Dünger einwärts und auswärts fahren können.

Exkurs: Das Düngerausbringen geschah bei uns von alters her und bis um die Mitte des letzten Jahrhunderts mit einem einachsigen flachen und breiten, von Rindern gezogenen hölzernen Mistkarren. Das ganze Gefährt wurde als Meni (in Grabs: Mììni) bezeichnet, die Transportart als menne(n)me het pmennt»), der Karren allein war die Benne (Bínne).

Bauer Burkhard Sprecher, Salen, am oberen Grabser Berg, beim Mistausbringen mit «Miini» und «Binne», um 1960. Bild aus: Paul Hugger, Werdenberg, Land im Umbruch. Basel 1964, nach S. 128.

Wir bewegen uns bei diesen Ausdrücken auf sehr altem Sprachterritorium, das nicht bloss in Jahrhunderten, sondern in Jahrtausenden zu zählen und seit einigen Jahrzehnten durch den technologischen Wandel völlig ausser Gebrauch gekommen ist. Darum möchte ich im Vorbeigehen hier noch rasch auf ein paar Details hinweisen:

Das Wort Benne (Binne) stammt aus lateinisch benna, das aber selber keltisches Lehnwort ist. Es kann also sehr wohl so sein, dass Wort und Sache hierzulande schon in vorchristlicher Zeit in Gebrauch waren.

Sehr alt ist auch das Wort menne(n) ‘das Zugvieh antreiben und lenken, mit Zugvieh fahren’, konkret etwa Mist mennen ‘den Dünger in die Wiesen führen’ (daraus auch übertragen ‘sich abmühen, streng zu arbeiten haben’). Der Ausdruck kam schon zu althochdeutscher Zeit (als man im Werdenberg noch romanisch redete) ins Deutsche, nämlich als mennan, mittelhochdeutsch mennen; es stammt als Lehnwort aus lateinisch minare ‘(durch Schreien und Prügeln) (Tiere) (an)treiben’, ‘(ein Fuhrwerk) fahren’; dasselbe Wort ging ja auch in ital. menare, franz. mener, romanisch manar ‘führen’ ein.

Aus diesem Verbalstamm ergab sich der Ausdruck die Meeni (Miini) für das ganze Gespann. Ich habe in den 1950er Jahren diese «Mennerei» am Grabser Berg noch als alltäglich erlebt.

Doppel-Hornjoch am Grabser Berg. Bild aus: Paul Hugger, Werdenberg, Land im Umbruch. Basel 1964, vor S. 89.

Schon auf den ältesten Felszeichnungen aus der Stein- und Bronzezeit lassen sich Gespanne erkennen, die beim Pflügen und Eggen durch ein Joch verbunden waren. Hierzulande war bis in die 1950er Jahre das Hornjoch gebräuchlich, das unmittelbar hinter den Hörnern des Zugtiers mit den starken Hornriemen starr an diese gebunden («gewëttet») war; schon Plinius der Ältere (1. Jh. n. Chr.) bemerkte im 8. Buch seiner Naturalis Historia, dass die Kühe in den Alpen im Hornjoch zögen. Daneben gab es gebietsweise auch das Halsjoch, das dem Zugtier weiter hinten auf den Nacken (Hals) gelegt wurde (in der Einbuchtung zwischen dem unteren Teil des Nackens und dem Widerrist), wodurch dank der Halsbindung die Zugkraft des Widerrists zur Geltung kam. Bei uns aber kannte man nur das Hornjoch.

Ich erinnere mich gut an den Tag, da ich als kleinerer Bub einmal bei meiner Grossmutter war und den Onkel begleitete, wie er mit der Miini Mist führte. Eines der eingejochten Rinder tat nicht recht, es sperrte und wehrte sich gegen das unbequeme Joch – so heftig und ungestüm, dass ihm plötzlich ob des ausgeübten Drucks auf das Horn eine der Hornschalen absprang und das Blut im Bogen aus dem entblössten Hornzapfen schoss - kein schöner Anblick. Ja, und das soll dann das letzte Mal gewesen sein, dass der Onkel gemennt habe ... Die Zeit der Motorisierung stand ohnehin vor der Tür.

Doch nun vom Mistführen auf der Berggasse endlich wieder zurück zum Namen Hirschere!

Die eingangs aufgeworfene Frage nach einem Zusammenhang mit dem Geweihträger, dem Hirsch, muss verneint werden. Es sind sich hier drei ähnliche Wörter etwas zu nahe gekommen, nämlich deutsch Hirsch, Hirse und Hirz. Sie müssen wir zunächst etwas entwirren:

Das geweihtragende Wildtier, heute Hirsch geheissen, hiess älter Hirz. Davon zeugen noch viele Stellen in unseren Wäldern, die Hirzenbäder heissen: nasse Mulden, in denen sich das Rot- und Schwarzwild besonders bei trockenem, heissem Wetter zu suhlen pflegt. Auch der zürcherische Hirzel gehört hierher. Da nun aber das Tier Hirz hiess, war das Wort Hirsch in unserer älteren Sprache frei für etwas anderes: der Hirsch war die Getreideart ‘die Hirse (Panicum)’.

Die Echte Hirse (Panicum miliaceum) gehörte früher (besonders vor der Einführung von Mais und Kartoffel) auch in Europa zu den meistangebauten Nahrungsmitteln; sie ist sehr mineralstoffreich und gehörte hier wie auch in vielen Gebieten Afrikas und Asiens zu den Grundnahrungsmitteln. Sie soll schon vor 8'000 Jahren dazu gedient haben, ungesäuertes Fladenbrot herzustellen.

Das lateinische Wort milium n. 'Hirse' ging als meil (megl) ins Rätoromanische ein. Auch dazu finden sich Spuren in Werdenberg: Der Wartauer Flurname Fermeil (im Fontnaser Feld) geht auf romanisch èr meil 'Hirseacker' zurück, hat also genau die gleiche Bedeutung wie Hirschere.

Auch das deutsche Wort Hirsch ist weit herum in Geländenamen häufig, etwa als Hirslanden, Hirschacker, Hirsrüti, Hirsboden, Hirsgarten, und auch unser Gamser Hirschere gehört zu dieser Kategorie; er bedeutet: ‘Ort, wo eine Hirsepflanzung ist bzw. war’. 

Wenn man das untenstehende Bild betrachtet, darf man annehmen, dass als Hirschere ursprünglich die flache Terrasse (nördlich der Gasse, also links im Bild) bezeichnet wurde; sie eignete sich als Ackerland offenkundig am besten.

Blickrichtung über Hirschere (die flache Terrasse links im Bild) der alten Gasse nach gegen Bruedermäl hinab. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Auf die Endung -ere(n) (die auf lateinisch ‑aria zurückgeht) muss hier noch besonders hingewiesen werden, denn sie erscheint oft mit Bezug auf Sachen, wobei sie den räumlichen Bereich anzeigt, wo die entsprechende Sache von Natur aus in grosser Menge vorhanden ist oder hergestellt wird: namentlich bei Pflanzen (oft Kulturpflanzen); man vergleiche  Albere (in Gams, Gamser Riet), Gersteren (Grabs, Gamperfin), Haberen (Sevelen, Talebene; †Sennwald), Holderen (Obertoggenburg, Unterwasser), Farneren (Innerschweiz, Bern). Die Zusammenhänge sind hier meist ohne weiteres erkennbar: Alber f. ‘Pappel, Weiss-, Schwarzpappel’; Gerste f. ‘die Körnerfrucht’; auch ‘wilde Gerste, Meisterwurz (Peucedanum ostruthium, aus der Familie der Doldenblütler)’; Haber m. ‘Hafer (Avena sativa)’; Holder m. ‘Holunder (Sambucus nigra)’; Farn m./n. ‘Farnkraut’.

Daneben gibt es die Ableitung auf -ere(n) auch mit Substantiven anderer Bedeutung, etwa: Chäsere(n) (Gams, Alt St.Johann); Stauberen (Sennwald). Doch sie können wir hier beiseitelassen.

Ganz am Schluss nochmals zu unserem Namen am Gamser Berg, der sich in jüngerer Zeit zu Hirschenen gewandelt hat. Warum kam es wohl zu dieser Umdeutung (denn eine solche liegt hier tatsächlich vor)? Kurz gesagt, handelt es sich dabei eigentlich um eine Panne. Zwar ist die Endung -ene(n) auch sehr gebräuchlich, allerdings in einer ganz anderen Funktion, als wir sie für -ere(n) kennengelernt haben: Sie bildet nämlich in der herkömmlichen Mundart den Dativ Plural von weiblichen und sächlichen Wörtern (Rüfi : in den Rüfene[n]; oder: Chälbli : mit den Chälblene[n], usw.). Es fehlt ihr also jegliche Bedeutungsnuance, die auf einen ‘Ort mit Hirsepflanzung’ hinweisen würde. Dass diese Endung neu auf den Namen Hirschere(n) überspringen konnte (> Hirschenen), zeigt vielmehr, dass das Wissen um den kulturgeschichtlichen Hintergrund des Namens gänzlich verloren gegangen war, womit auch die Namensform nicht mehr geschützt war vor sinn-loser Veränderung. Aus dem einst sprechenden Namen ist ein blosses Etikett geworden, das zwar als Ortsbezeichnung weiterhin funktioniert, aber den ursprünglichen sachlich-kulturgeschichtlichen Hintergrund ganz verschleiert.

Im heute nicht mehr verstandenen und daher bereits sinnwidrig abgewandelten Namen steckt also weit mehr als ein belangloses Kuriosum: Es ist ein bemerkenswertes Stück Kulturgeschichte, auf das er uns hinweist - die Erinnerung an ein wichtiges Grundnahrungsmittel zu einer Zeit, da Nahrung und Lebensunterhalt noch ausschliesslich dem eigenen kargen Boden abgerungen werden mussten. Davon war auch das Berggebiet keineswegs ausgenommen; vielmehr wurde auch dieses an den dafür geeigneten Lagen bis weit hinauf intensiv beackert. Wer das Auge dafür hat, kann bei günstigem Lichteinfall noch da und dort im heutigen Grasland (besonders schön etwa am Studner Berg) die Spuren alter Ackerterrassen mit ihrem steileren talseitigen Bord erkennen.

Der Studner Berg mit seinen alten Ackerterrassen, am 22. Oktober 2022, um 15 Uhr, vom Grabser Riet aus gesehen. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Noch im Werdenberger Urbar von 1754 wird auf S. 104 unter den vielen angebauten und zehntpflichtigen Produkten auch die Hirse aufgezählt: «weißen, koren, haber, gersten, roken, türken koren, heiden koren, erbß, bonen, fench, hirsch, hanf, flachs, räben, obß, nuß etc.» (Rechtsquellenband Werdenberg, Nr. 229, S. 650, Z. 7f.).

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