«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Hülsch

(Gams)

Nordwestlich des Dörfchens Gasenzen, im Gelände, das gegen den Usserberg hin leicht ansteigt, liegt das Wiesland namens Hülsch. Es wird vom Gasenzenbach durchflossen, grenzt im Süden an Rotochen und Usserbach, nordostwärts an Gamschol, aufwärts an Schönenberg, südwestlich an Igalätscha. Hier befindet sich der Werkhof der Ortsgemeinde, und hier steht auch eine alte Handseilerei. Wer der Geschichte dieses Namens nachgeht, erlebt gleich eine Überraschung – der Ort hiess nämlich ursprünglich gar nicht Hülsch (und erst recht nicht Hültsch), sondern - Sülsch. Das muss erklärt werden.

Im Gamser Gangbrief von 1462 tritt der Name erstmals ans Licht. Dort heisst auf Seite 5 der zweite Absatz wie folgt (im Bild ab Zeile 8):

«Item aber gat ain Holtz weg uss der ob genantten lantstraß zwüsch-/ent des Bochslers veld und Dietrich Sutters agker und zwü-/schent dem Ärbs land und des Bäblers Sülsch hin uff und / undrem grossen stein und über Hermans boden hin uff und / näbent des Pfaffen veld hin uff und der Weg untz [= bis] da / selbs hin söl nün schuoch wit [= 2,7 m breit] sin und dannet hin söl der / sälb weg acht schuoch wit sin wa man inn acht schuoch / wit mag machen und sol die Hülli hin uff gan bis uff die almaind».

Eine ziemliche Überraschung, wenn sich herausstellt, dass ein vertrauter Name wie Hülsch seit Generationen – wenngleich in guten Treuen – gewissermassen «falsch» gebraucht wird … Doch Tadel wäre hier nicht am Platz, denn erstens geschah der Irrtum schon vor mindestens drei Jahrhunderten (bereits 1749 heisst es in einem Zinsrodel «in dem hülsch»), und zweitens tat diese lautliche Verschiebung der örtlichen Verständigung ja nie im Geringsten Abbruch. Die Leute gewöhnten sich an die neu aufgekommene Aussprache, vergassen die alte und erkannten die gleiche Örtlichkeit nun eben unter der neuen Bezeichnung.

Ein ähnliches Schicksal widerfuhr am nördlichen Dorfrand von Grabs auch dem Gebiet, das heute «Dorfengraben» genannt wird, und das im Bewusstsein des heutigen Grabsers irgendwie mit «Dorf» in Verbindung gebracht wird. Bis ins 17. Jahrhundert hiess besagtes Gebiet nämlich «Gorfengraben», und das stellt sich als recht sinnhaft heraus. Denn «Gorf» war ein alter romanischer Familienname (er war vom 16.-19. Jh. im Engadin und anderswo noch bezeugt). Er muss als Personenbezeichnung auch hierzulande gelebt haben, denn nebst dem Gorfengraben gab es nach dem Grabser Urbar von 1463 am Grabser Berg auch einen Maienberg namens «Gorfen Berg». Gorf war ursprünglich sicher ein Übername, und er geht auf das romanische Wort corv ‘Rabe’ zurück. Dann aber starb er hierzulande aus – spätere Geschlechter erkannten im Gorfengraben den ursprünglichen Zusammenhang nicht mehr, und darum kam es zur Entstellung zu Dorfen-.

Doch zurück zu unserem Gamser Fall! Zwischen der ältesten Erwähnung (1462 als Sülsch) und dem zweiten Erscheinen 1749 als Hülsch klafft leider eine breite zeitliche Lücke, die die Entwicklung der Namensform lange verdeckt. Könnte sich der Gamser Gangbrief von 1462 mit seinem Sülsch vielleicht gar geirrt haben? Das erscheint kaum wahrscheinlich, wenn man die in der Einleitung des Dokuments aufgeführten Namen der einheimischen Amtsleute durchliest … da finden sich Angehörige der Geschlechter Bühler, Scherrer, Hardegger, Schöb, Bäbler, Kaiser, Wesner, usw., lauter Einheimische und sicher Ortskundige, die eine falsche Namensform gewiss nicht durchgelassen hätten.

Blick vom Usserberg her auf Gasenzen (Bildmitte). Davor die flach ansteigende Wieslandfläche von Hülsch. - Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Sülsch als primäre Form scheint also sicher. Wie aber lässt sich die spätere «Fehlentwicklung» erklären, die da im Dunkeln stattgefunden hat? Zu vermuten ist, dass die Fügung «s Sülsch» mit der Zeit umgedeutet wurde zu «s Ülsch» und dann eben zu «s Hülsch».

Und nun zur Herkunft des eigenartigen Namens. Er hat prominente Verwandte im Bündnerland, nämlich keine geringeren als die Dorfnamen Sils (rom. Seglias) im Domleschg und Sils (Segl) im Engadin. Ihnen allen liegt ein uraltes Wort aus dem Gebiet des Ackerbaues zugrunde. Dieses ist als seglia f. im Surselvischen und als saglia f. im Engadinischen erhalten und bedeutet ‘langer Ackerstreifen; Langacker, Streifenflur’. Der Ausdruck stammt aus der gallischen (keltischen) Sprache, und wo immer er im alträtoromanischen Raum vorkommt, bezieht er sich stets auf altes Ackerland. Er ist als gallisches Substrat aber auch in Oberitalien, Frankreich und Katalonien vertreten.

Im Werdenberg trifft man das Wort mehrfach in Namen, einmal als Einzahl seglia, dann wieder im Plural seglias: In Wartau finden sich die Flur Zellis (in Azmoos), dann (nur urkundlich bezeugt) ein †Selga (im Gretschinser Feld) und ein †Silla (ein unbekannter Weingarten). In Sevelen gehört hierher das Wies- und Ackerland Sella in Sevelen (östlich von Rans). In Gams ist ausser unserem Hülsch noch ein einschlägiger Fall zu vermuten, nämlich †Selgenfeld (unweit über dem Dorf). Zu erinnern ist in der weiteren Umgebung auch an die Fälle Sillis (Ragaz), †Sellas (Balzers), wohl auch Silligatter (Eschen), ferner in Südvorarlberg Sella (Ludesch) und Zilla (Damüls).

Der Fall Hülsch fällt angesichts dieser Reihe nur scheinbar aus dem Rahmen, wegen seiner späten Entstellung. Ansonsten passt er sowohl sachkundlich (altes Ackerland) wie auch sprachlich zu dem vorgeschlagenen gallisch-romanischen Namentyp. Der Übergang von Sil- zu Sül- erklärt sich durch rundenden Einfluss des folgenden -l- (man vergleiche entsprechend: deutsch Hilfe – mundartlich Hülf); das -ls wurde zu -lsch, gleich wie etwa in deutsch Hülse bzw. mundartlich Hülsche.

Vor dem Hintergrund dieser erstaunlichen Namensgeschichte sind die heute oft zu hörenden Diskussionen zur «richtigen» Schreibung des Namens (nämlich: ob «Hülsch» oder «Hültsch») doch einigermassen hinfällig, und die unlängst aufgekommene Ansicht, es sei «-tsch» zu schreiben, ist, weil unnötig und unhistorisch, klar zu verwerfen.

Bemerkenswert ist dagegen die Feststellung, dass das leicht ansteigende Gebiet Hülsch am Bergfuss zur uralten Ackerbauzone von Gasenzen gehörte; noch 1788 ist ein «Hülschackher» urkundlich bezeugt.

 

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