«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Luna

(Buchs)

Wer auf freier Höhe über die Alp Imalbun hochsteigt, um den Margelchopf zu erklimmen, der durchquert über dem Steilgelände des Obersess den Hangrücken des Tossen und gelangt südlich vom Hanenspil zum Lunabrunnen. Hier öffnet sich der Blick nach Norden auf den mächtigen Einschnitt, der den eben überwundenen Höhenrücken von der weiter nördlich ebenso frei hochragenden Alp Gampernei (Grabs) trennt. Unmittelbar rechts neben und unter sich sieht er, zwischen Hanenspil und Forenchopf, eine terrassenartig gestufte Alpweide in weiter Mulde. Dieses Weidegebiet unmittelbar unter der östlichen Seite des Margelchopfs heisst Luna. Es bildet die südliche Flanke des erwähnten mächtigen Einschnitts zwischen Tossen und Gampernei. Unter der Luna fällt das Gelände, sich verengend, nordostwärts in das Alptal von Ivelspus (Grabs) ab. Das Weidegebiet Luna liegt auf 1600 bis 1900 m und wird unterschieden in Under und Ober Luna. Südwestwärts steigt es zu den Weideterrassen Bi den Seeli sowie zur Glanna und zum Isisizgrat an.

Luna – ein schöner Name, tönt seltsam italienisch. Ob er hält, was er zu versprechen scheint? Sehen wir uns den Fall aus der Nähe an. Gerne möchte man auch hier in den Schriftzeugnissen aus älterer Zeit den Schlüssel zum Geheimnis finden. Was aber, wenn, wie hier, die beiden urkundlichen Belege von 1666 und 1710 auch nur Luna lauten? Ja, dann können sie uns auch nicht weiterhelfen.

Das Weidegebiet Luna unter dem Margelchopf; rechts die Lunabrünnen, darüber der Tossen. Links unten die Alp Gampernei und weit hinten der oberste Grabser sowie der oberste Gamser Berg. Darüber die südliche Alpsteinwand. Bild: Hans Jakob Reich.

Ernst Rohrer, seines Zeichens Chemiker und interessierter Heimatkundler, verfasste 1964 eine Broschüre zu den Buchser Namen. Zum Namen Luna schreibt er, lateinisch luna ‘Mond’ sei ebenso zurückzuweisen wie schweizerdeutsch Luna ‘Laune’. Dem ist freilich zuzustimmen – heisst das wohl, dass eben diese «Erklärungen» beim Volk damals im Umlauf waren? Rohrer schlug nun lateinisch lacuna vor und bezog sich dabei auf die Seelein unter dem Isisizgrat. Sein Vorschlag geht allerdings auch nicht auf, denn nicht nur heisst lacuna nicht ‘Seelein’, wie er voraussetzte, sondern ‘Sumpf’. Und zudem lebt das betreffende Wort im Rätoromanischen gar nicht weiter, auch in Ortsnamen nicht. Auch würde keine halbwegs reguläre Lautentwicklung von lateinisch lacuna zu unserem Namen Luna führen. Der Vorschlag muss also fallengelassen werden.

Valentin Vincenz stellt 1983 fest, dass lateinisch luna ‘Mond’ (im Romanischen als glüna und glina erhalten) in Graubünden auch in Ortsnamen vorkommt, allerdings nur in Zusammensetzungen, wie etwa Mezzaglüna in Zuoz, Piz Glüna in Schlarigna/Celerina. Daher vermutet er, dass Luna einmal noch einen zusätzlichen Namensteil enthielt, der mittlerweile abgefallen ist. Solches kommt in der Tat vor; eben in unserer letzten Abhandlung zum Namen Flusa (Sevelen) haben wir diesen Mechanismus in Anspruch genommen.

Hier allerdings liegt die Sache wohl doch anders. Ich sehe in Luna eine Kurzform zu romanisch valluna ‘grosses Tobel, breiter Geländeeinschnitt’. Der Ansatz passt hier ausgezeichnet, wenn man den mächtigen, steil abfallenden Einschnitt zwischen Tossen und Gampernei ins Auge fasst. Der ursprüngliche Name Valluna ist dann – sicher nach dem Sprachwechsel zum Deutschen – zu Luna gekürzt worden. Auf solche Kürzungen trifft man bei uns sehr oft; sie hängen zusammen mit den unterschiedlichen Sprachstrukturen des Romanischen und des Deutschen: Wörter mit Betonung der zweiten Silbe (vallúna) stellen im Romanischen den Normalfall dar; das Deutsche hingegen zieht die Erstsilbenbetonung vor. Den deutsch Sprechenden – und namentlich denen, die sich damals neu in der Gegend niedergelassen hatten – gingen die romanisch betonten Namen gegen den Strich – sie neigten dazu, in solchen Fällen eine Betonung der ersten Silbe herbeizuführen. Bei Namen, die besonders früh (noch in althochdeutscher Zeit, also noch im ersten Jahrtausend) ins Deutsche übernommen worden waren, kam es zur spontanen Betonungsverschiebung (aus lateinisch Brigántium wurde deutsch Brégenz, aus romanisch Runcáglia entstand alemannisch Rúnggels). In jüngerer Zeit (ungefähr nach 1100) war dieses Verfahren des Akzentrückzugs allerdings nicht mehr lebendig, auch wenn das Bedürfnis nach Erstbetonung durchaus weiter vorhanden war. So kam es gebietsweise zu einem radikalen Schritt, nämlich zur Kürzung solcher Namen durch Abwurf der ersten Silbe: siehe Fina (Wartau, Balzers, Triesen, Schaan) aus rovina ‘Rüfe’, Pir (Grabs) aus *Montpir, Grüel (Sevelen) aus *Nagrüel, Grib (Sevelen) aus *Nagriuw, Lätsch (Grabs) aus *Vallátscha, usw. In diesen Zusammenhang ist nun auch unser Lúna (aus Vallúna) zu stellen. Die Herleitung entspricht den sachlichen und sprachlichen Gegebenheiten unserer Gegend in sehr annehmbarer Weise.

Nachzutragen bleibt, dass die Gemeinde Wartau in Bezug auf den erwähnten Kürzungsmechanismus eigene Wege geht: Dort findet man nur wenige solche Kürzungsfälle, und die «romanisch» betonten Namen sind dort meist erhalten geblieben (man vergleiche etwa: Fanál, Fanéla, Fanóla, Ferdúrn, Feréitis, Ferfíggs, Fergásis, Fergrólis, Ferméil, Fersáls, Fontnás, Gapléina, Majór, Maláns, usw.). Dieser Unterschied erklärt sich daraus, dass Wartau bedeutend länger als die nördlich anschliessenden Gemeinden bei der alten romanischen Landessprache geblieben ist, sodass die dortigen Namen die zeitlich begrenzte «Mode» des Silbenabwurfs noch gar nicht mitbekamen. So blieb die romanische Betonung in Wartau meist unversehrt, und so ist die südlichste Werdenberger Gemeinde auch die «romanischste» der Region geblieben.

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