«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Palfris

(Wartau)

Das weitlĂ€ufige Alpgebiet hinter dem Chamm, sĂŒdlich von Gauschla und Alvier, ist weit herum bekannt - eine langgezogene gewellte Terrasse, zum Seeztal abfallend und in steilen, trichterartigen Tobeln dorthin entwĂ€ssernd. Sie wird auch von dort aus mit einer Seilbahn erschlossen, wĂ€hrend das AlpstrĂ€sschen von Oberschan her kommt. Grob wird das Gebiet eingeteilt in Vorder- und Hinderpalfris sowie Alpili. Es umfasst die Einzelsennereien (von hinten nach vorn): Alpili, StralrĂŒfi, Forggili, MĂŒllerighĂŒtte (auch Althus genannt), Geissegg, Vorderpalfris, HirtenhĂŒtte (Alpenrösli), Waldguet, RĂŒtiguet, Chammboden, Tschuggnersess, Ober und Under Steinersess.

Der nordwestliche Teil der Alp, Hinderpalfris, war jahrhundertelang durch Walser dauernd besiedelt; deren Anwesenheit in Wartau ist erstmals bezeugt im Sarganser Urbar von 1398 (fĂŒr Matug); Palfris erscheint 1414 erstmals als Walsersiedlung. Noch heute steht auf Hinderpalfris das 1409 errichtete Rathaus der gefreiten Walser. Diese haben dann aber spĂ€ter ihre hochgelegenen WohnstĂ€tten verlassen und sind in der ĂŒbrigen, vormals romanischen Bevölkerung aufgegangen. Der Umstand, dass in der Ă€lteren Wartauer Mundart der Ausdruck «Pilfriiser» fĂŒr ‘Grobian, Mensch von rohen Manieren’ bekannt war, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Meinung der alteingesessenen Wartauer ĂŒber die zugewanderten Kolonisten.

 

Doch hier soll uns in erster Linie der Name Palfris selbst beschĂ€ftigen. Der Wartauer sagt «Pilfriis», wĂ€hrend vom Raum Grabs her Ă€lter die Namensform «Impelfriis» galt. Die neumodische Schreibung «Palfries» (mit -ie-) ist und bleibt trotz ihrer hartnĂ€ckigen Verwendung falsch und irrefĂŒhrend – hat sie doch dazu gefĂŒhrt, dass mittlerweile der Name immer hĂ€ufiger auch falsch ausgesprochen wird, nĂ€mlich mit gesprochenem -i-e- (wie etwa mundartlich «Chriesi») - wĂ€hrend diese dem Hochdeutschen abgeschaute Orthographie ursprĂŒnglich ja bloss die LĂ€ngung des -i- von «Pilfriis» ausdrĂŒcken wollte.

Wer einen alten Namen deuten will, tut gut daran, zunĂ€chst einmal die urkundlichen Schreibungen zu Rate zu ziehen – oft findet sich ja in ihnen der entscheidende Hinweis auf Entwicklungsweg und Ursprung einer Benennung. Im Falle von Palfris versagt dieses Mittel allerdings, denn die auf uns gekommenen (als zuverlĂ€ssig zu wertenden) Schreibungen bewegen sich alle im Bereich «Palfris, Balfris, Balfryss», also lautlich der heutigen Form entsprechend; 1750 erscheint auch ein naiv verhochdeutschtes «Balfreiss»; 1646 kommt erstmals auch ein «Jmpellfryss» dazu («Thoman Schuomacher selig war ein gfryeter Walser gesĂ€ssen Jmpellfryss»). Wir sehen: die Belege tun uns den Gefallen nicht, Ă€ltere Entwicklungsstufen zu enthĂŒllen – dafĂŒr sprechen aber auch sie gebieterisch gegen die seit dem 19. Jh. aufgekommene Schreibung «Palfries» (mit -ie-!), erscheint doch eine solche in der ganzen langen Belegreihe zwischen 1400 und 1800 kein einziges Mal!

Blick auf die Alpterrasse von Palfris. Rechts im Bild der Chamm (Übergang vom Rheintal her). - Bild: Hans Jakob Reich.

Wir mĂŒssen also auf der Suche nach der Herkunft des Namens Palfris auf anderem Weg weiterzukommen versuchen. Was sagen die Ă€lteren Namenforscher? Ihre Mutmassungen gehen – wie so oft - weit auseinander! Vieles hĂ€lt einer nĂ€heren PrĂŒfung denn auch nicht stand.

Schon Ludwig Steub hatte sich 1843 und dann nochmals 1854 mit «Balfries» (!) befasst (das er einmal als «Name eines Berges bei Flums», dann wieder als «Berg bei Sargans» bezeichnet). Sein Urteil lĂ€sst uns erwartungsgemĂ€ss ohne wirkliche Erkenntnis zurĂŒck. Das eine Mal sieht er im Namen einen «rhĂ€tischen Stamm vel» («  und ist gleich veluvrusa»), dann wieder redet er von einem «rhĂ€tischen Stamm pal (palvurusa)» - beide gibt er ohne Bedeutungsangabe; sie sind als glattweg erfundene Konstrukte ohne jeden wirklichen Aussagewert.

Wilhelm Götzinger (1891, «Die romanischen Ortsnamen des Kantons St.Gallen», S. 69) denkt an einen deutschen Personennamen Baltfried. Dieser ist im frĂŒhmittelalterlichen RĂ€tien zwar nachgewiesen, hier aber doch unwahrscheinlich. Eine Verbindung mit mittellateinisch balafredum (bzw. balfardus, althochdeutsch perecfrit ‘Streitturm’, vgl. dt. Bergfried) hĂ€lt er (ganz zu Recht) fĂŒr unwahrscheinlich. DafĂŒr vermutet er einen Zusammenhang mit dem teils Ă€hnlich lautenden Namen Balfrus in Flums. 

Der uns bereits bekannte Seveler Dorfarzt Heinrich Gabathuler versucht es in der ersten Ausgabe seines BĂŒchleins (Gabathuler 1928, S. 77) einmal mehr mit der Kombination von Sprachelementen aus ganz unterschiedlichen Richtungen: Pal- stelle einen (indogermanischen) Stamm pal- dar und heisse ‘offen daliegen’, und -fris gehöre zu althochdeutsch fridu ‘Friede’, also heisse das Ganze: ‘FlĂ€che, die durch EinzĂ€unung geschĂŒtzt, «gefriedet» ist’. Der untaugliche Versuch scheitert leicht ersichtlich zum vorneherein.

In der zweiten, ĂŒberarbeiteten Ausgabe (Gabathuler 1944, S. 58) beschreitet Heinrich Gabathuler einen anderen Weg, indem er eine Verbindung mit spĂ€tlateinisch paraveredus ‘Beipferd, Nebenpferd, Postpferd’ herstellt, also ein altromanisches *palfrids ‘Pferdealp’ ansetzt. Darauf wird nun tatsĂ€chlich weiter unten zurĂŒckzukommen sein; er befindet sich da nĂ€mlich auf der rechten Spur.

Andrea Schorta, der Bearbeiter des RĂ€tischen Namenbuches (RN 2, 775) erwĂ€hnt unseren Namen («Palfries») in Zusammenhang mit einer Gruppe Ă€hnlicher bĂŒndnerischer Ortsbezeichnungen (Palfrei Malix, Balfrai Sent, Valfraja Samnaun, urkundlich Walfrue Seewis) und denkt dabei an frĂ€nkisch bergfrid.

Im Buch zu den romanischen Namen von Wartau (Stricker 1981b, S. 293-300) habe ich die Ă€lteren Deutungen zum Namen Palfris ausgiebig besprochen. Dort stand ich diesen allen reserviert gegenĂŒber - auch einem Zusammenhang mit spĂ€tlateinisch paraverēdus ‘Nebenpferd’, da der Worttyp im Romanischen heute fehle (mittlerweile habe ich - siehe unten - diese Skepsis abgelegt). 

Unsere Deutung geht nun nĂ€mlich genau in diese Richtung: Das Wort para-verēdus enthĂ€lt im ersten Teil griechisch para- ‘neben, bei’ (dieses erscheint auch etwa in Parapsychologie, Paradies, Paragraph, Paralyse, Parasit); der zweite Wortteil, lateinisch verēdus, stammt aus dem Gallischen (Keltischen) und bedeutete ‘Post-, Kurier-, Jagdpferd’. Die Zusammensetzung ist also zunĂ€chst zu verstehen als ‘Nebenpferd, Beipferd, Handpferd, Reserverpferd’ (etwa im mittelalterlichen Kurierwesen). Die Existenz von paraverēdus ist im mittelalterlichen Latein durchaus krĂ€ftig nachgewiesen; es muss als Fachbegriff des Transportwesens sehr bekannt gewesen sein. So bekannt, dass es sogar ins Deutsche ĂŒbernommen wurde: In der FrĂŒhzeit der deutschen Sprache kam nĂ€mlich neben den germanischen Bezeichnungen Gaul, MĂ€hre, Ross auch althochdeutsch parafred, pherfrid (9. Jh.) auf - und von dort zu mittelhochdeutsch pherit (13. Jh.) und schliesslich zu unserem Wort Pferd war nun der Weg nicht mehr weit. Offensichtlich trat dabei die BedeutungseinschrĂ€nkung auf ‘Nebenpferd, Beipferd, Postpferd’ wieder zurĂŒck.

Es scheint nun wohl gestattet annehmen, dass der Ausdruck paraverēdus auch ins RĂ€toromanische eingegangen sei, zumal er in mittelalterlichen Dokumenten auch in unserem Raum recht hĂ€ufig auftritt. Dort wĂ€re zunĂ€chst eine Lautform *parvrei(s) zu erwarten (mit -ei-, wie es in den Flurnamen Palfrei Malix und Balfrai Sent vorliegt). Der Übergang von par-vr- zu pal-vr ist in dieser lautlichen Umgebung normal.

Unser Name hiess also ursprĂŒnglich auf romanisch alp (d') parvreis ‘Rossalp, Pferdealp’. Mit dem Untergang des Romanischen wurde nun aber der Name, bzw. das Bestimmungswort parvrei(s), nicht mehr verstanden. Man meinte nun, Parvreis (bzw. dann Palfris) sei der eigentliche Name - die Alp heisse Parvreis (bzw. Palfris), und das Element alp (das alte Grundwort der FĂŒgung) sei bloss die (deutsche!) Gattungsbezeichnung («die Alp namens Parvreis»), also gleich wie etwa bei Alp Gamperfin, Alp ImalschĂŒel, usw.

Wie erklĂ€rt sich nun das betonte -i- von Palfris, das im Altromanischen noch -ei- war? Der LautĂŒbergang hĂ€ngt wohl mit folgender Beobachtung zusammen: Bei frĂŒher Integration von lateinischen Wörtern (also noch in althochdeutscher Zeit) wurde lateinisch -ē- ins Deutsche jeweils als -i- ĂŒbernommen (vgl. etwa lat. tēgula > dt. Ziegel, lat. sēta > alemannisch Side). Entsprechend kann zu altromanisch *parvrei(s) auch eine frĂŒh verdeutschte Form Palfris getreten sein. Das hiesse also, dass sich bei diesem Namen die vom Deutschen beeinflusste Lautvariante relativ frĂŒh durchgesetzt hat, obgleich Wartau zu den besonders spĂ€t verdeutschten Zonen gehört. Hier können die BesitzverhĂ€ltnisse eine wichtige Rolle gespielt haben: Deutschsprachige Feudalherren haben wohl der im Deutschen gelĂ€ufigen Aussprache Palfris zum frĂŒhen Durchbruch verholfen.

Bleibt noch die Frage, ob sich auch aussersprachliche Hinweise finden lassen darauf, dass die Alp Palfris einmal (auch) eine Pferdealp gewesen sei. FĂŒr die ferne Epoche, in der unser Name gebildet wurde – also sicher vor ĂŒber tausend Jahren –, verfĂŒgen wir zwar ĂŒber keine direkten Zeugnisse; das muss allerdings noch nicht gegen die Annahme sprechen. Viel spĂ€ter, in einem Rechtsspruch des Sarganser Landvogts von 1772 zwischen Wartau und Berschis (vgl. Werdenberger Jahrbuch 2011, 60), wird dann immerhin vielsagend festgehalten, dass die Alp Palfris westwĂ€rts bis Stralegg und Alpilichopf reichen solle, «soweit dort das Vieh und die Pferde weiden könnten». 

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