«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Parossa

(Sennwald)

Wer von Sax herkommend nach FrĂŒmsen fĂ€hrt, ĂŒberquert kurz hintereinander zwei BergbĂ€che: Der eine ist, kurz nach dem Gristarangg, der Schlipfbach, der aus dem Gebiet ĂŒber Grista (Schlipf, HaldenhĂŒser, Wasen)  herunterkommt und von Tscheel her auch noch den Lindenbach aufnimmt, bevor er das Wohngebiet Stig durchquert. Der zweite dieser BergbĂ€che unterquert die Durchgangsstrasse nach etwa 250 m: Es ist der Haldenbach, der den nördlichen Teil des FrĂŒmsner Bergs entwĂ€ssert; von hier, vom Kiessammler im Feld an, trĂ€gt er nun den Namen Wisle.

Hier, wo die Strasse den Haldenbach ĂŒberquert, biegen wir bergwĂ€rts ab und folgen dem StrĂ€sschen, das in weiten Kehren den FrĂŒmsner Berg erschliesst. In der dritten, nach SĂŒden ausholenden engen Kehre auf rund 540 m Höhe halten wir inne: Wir suchen ja das StĂŒck Wiesland, das Parossa heisst. Hier muss es liegen, unterhalb des Heimwesens namens Aspen, in leichter Verflachung des Hangs, wo in einem wenig tiefen GelĂ€ndeeinschnitt ein kleines, teils von BĂ€umen gesĂ€umtes BĂ€chlein rinnt (und etwas weiter unten wieder verschwindet). Dem Namen Parossa wollen wir hier nachgehen.

Der FrĂŒmsner Lehrer und Ahnenforscher Adolf SchĂ€pper (1904-1959) hat um 1930 eine Sammlung der Orts- und Flurnamen der Gemeinde Sennwald angelegt. Zum Namen Parossa schrieb er dort, dass daneben auch noch die Sprechform Prarossa sowie ein zusammengezogenes Prossa bekannt seien.

Vor uns das Wiesland Parossa, oben links das Gehöft Aspen, darĂŒber Saxer Lugge und ChrĂŒzberg. Rechts der Bildmitte der GelĂ€ndeeinschnitt, durch den das BĂ€chlein verlĂ€uft und wo wohl vor tausend Jahren die WĂ€ssergrube angelegt war. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Wir nehmen hier gleich das Ergebnis vorweg und halten fest, dass der Name Parossa einen Zusammenhang herstellt zur Hanfkultur, die – obgleich heute vollstĂ€ndig vergessen – auch in unserer Gegend frĂŒher und seit je zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen gehörte.

Der in Grabs aufgewachsene Lehrer und Kulturgeograf Oskar Peter (1908-1949) schreibt in seiner ausgezeichneten siedlungs- und wirtschaftsgeografischen Untersuchung der Gemeinde Wartau (erschienen in zwei Teilen St.Gallen 1956 und 1960) auf S. 352ff., dass um 1939 hierzulande kaum jemand von der jĂŒngeren Generation noch Hanf und Flachs kannte. «Kein Spinnrad und kein Webstuhl standen [in Wartau] mehr in Betrieb. Nur die Ă€ltesten Leute konnten noch davon erzĂ€hlen, wie in ihrer Jugendzeit eigene Gewebe hergestellt worden seien». Mit der Ausbreitung der billigeren BaumwolltĂŒcher im 19. Jh. ging nĂ€mlich der Anbau der Faserpflanzen immer mehr zurĂŒck und erlosch schliesslich um etwa 1880 ganz. Nur wĂ€hrend des 1. Weltkrieges lebten Flachs- und Hanfanbau nochmals kurz auf, um dann mit dem Wiedereinsetzen des Importhandels gĂ€nzlich zu verschwinden.

Das BĂ€chlein in Parossa und der Ort am BĂ€chlein, wo frĂŒher wohl der Hanf gewĂ€ssert wurde. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Es scheint daher an dieser Stelle nicht ĂŒberflĂŒssig, zur ErlĂ€uterung der sachlichen und sprachlichen HintergrĂŒnde noch etwas weiter auszuholen.

Hanf, eine uralte Kulturpflanze, spielte in der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit eine entscheidende Rolle als Rohstoffpflanze. Seit vorchristlicher Zeit und bis ins 19. Jh. war Hanf die weltweit am hÀufigsten angebaute Nutzpflanze. Hanfsamen wurde gegessen, die Fasern wurden zur Herstellung von Gespinsten und Geweben verwendet. Auch in der Medizin fand die Pflanze Verwendung. Mit der Industrialisierung aber begann der Niedergang der Hanfnutzung und damit der Hanfkultur.

Auch die robustere Flachspflanze, aus deren Naturfaser das Leinengewebe hergestellt wurde, aber auch Seile und Tauwerk, gehört in diesen Zusammenhang; auch sie begleitete die menschliche Kulturgeschichte seit deren AnfÀngen.

Im 20. Jh. wurde die Hanf- oder Cannabisnutzung zwar wiederentdeckt und mit ihren VorzĂŒgen gepriesen, daneben aber auch verrufen wegen der in der Pflanze enthaltenen psychoaktiven Substanz THC (Tetrahydrocannabinol), welche die Grundlage fĂŒr halluzinogene DrogenprĂ€parate wie Haschisch oder Marihuana bildet. Dies rief entsprechend viel Widerstand hervor und brachte die daneben hochverdiente Kulturpflanze insgesamt in Verruf. Dies geschah mindestens teilweise zu Unrecht, denn der Faserhanf oder Nutzhanf ist THC-frei und lĂ€sst sich nicht zur Herstellung von Rauschmitteln verwenden. DafĂŒr ist er eine Ă€usserst vielseitig verwendbare Nutzpflanze.

Anbau und Verarbeitung des Hanfs waren aufwendig und setzten viel Erfahrung und Wissen voraus. Die HanfĂ€cker eines Dorfes fanden sich möglichst in einem eigenen Flurbezirk («Hanfland», «Hanferen») zusammengefasst, da die Arbeiten vom AussĂ€en bis zum Ernten von den Dorfgenossen stets gemeinschaftlich und zur selben Zeit durchgefĂŒhrt wurden.

Wenn die Pflanze auf dem Hanfacker (in der «Hanferen») erntereif war, begann ihre Verwertung. Das Raufen des Hanfes geschah in zwei Etappen: Zuerst wurde (im SpĂ€tsommer) der mĂ€nnliche Hanf («Fimmel») gezogen, spĂ€ter im Herbst auch der gröbere und lĂ€ngere weibliche (schweizerdeutsch «MĂ€schel», im Werdenberg «Maschgelt»). Die Stengel wurden in Garben gebunden. Beim samentragenden «Maschgelt» wurden die Kapseln vom Samen befreit (ausgerieben oder ausgeklopft); die Samenkörner wurden sorgsam gesammelt. Aus dem Hanfsamen liess sich Öl gewinnen, ebenso wie der Flachssamen («Leinsamen») das Leinöl ergab.

Eine MerkwĂŒrdigkeit stellt der im Schweizerdeutschen verbreitete «umgekehrte» Gebrauch der AusdrĂŒcke Fimmel und Maschgelt dar, wenn man weiss, dass Fimmel auf lat. femella 'von weiblichem Geschlecht' (!) und Maschgelt auf lat. masculus 'von mĂ€nnlichem Geschlecht' beruht! Die Verkehrung der sachlichen Bedeutung erklĂ€rt sich daraus, dass man die mĂ€nnlichen Stengel, weil sie kĂŒrzer und zarter sind, fĂŒr die weiblichen ansah, und umgekehrt.

So wurden frĂŒher Hanf oder Flachs in die WĂ€ssergrube (Röste) gelegt. Bild aus: Dicziunari Rumantsch Grischun Bd. 3, S. 296.

Die Garben wurden dann an Luft und Sonne getrocknet und kamen hernach in die Röste (mundartlich «Roes», auch «Rauze», anderwĂ€rts auch Röözi, romanisch rossa). Dabei gab es zwei Verfahren: gebietsweise kam hauptsĂ€chlich die Rasenröste zur Anwendung, wo die Stengel auf einer feuchten, riedigen Wiese ausgebreitet wurden; daneben gab es die Wasserröste, wo die Garben in einer eigens dafĂŒr neben einem BĂ€chlein gegrabenen runden oder rechteckigen Grube eingeweicht, mit Brettern und Steinen beschwert und unter Wasser gehalten wurden. Dadurch wurden die Stengel mĂŒrbe, die FĂ€ulnis setzte ein und die Pektine im Pflanzenstengel wurden aufgelöst, also die festen Holzbestandteile an den Fasern gelockert. Nach einer Woche oder lĂ€nger wurde der Hanf herausgeholt und zunĂ€chst wieder getrocknet.

Dann begannen die Arbeiten zum Gewinnen der Hanffaser, also das Befreien derselben von den harten Holzteilen. Die ArbeitsgĂ€nge, die dafĂŒr nötig waren, hiessen: das Schleizen (= den Hanfbast von den Stengeln ziehen), das Brechen (= die Stengel mit der Hanfbreche zerbrechen), das Schwingen (= mit einem Holzschwert die Stengel bearbeiten, um  die holzigen Teile zu entfernen), dann das Pochen (Bleuen) der FaserstrĂ€hnen, das Reiben (= die FaserstrĂ€hnen zerquetschen, um die letzten verholzten Bestandteile zu lösen und die Fasern zum Hecheln weich zu machen), das Hecheln (= die FaserbĂŒndel durch einen Hechelkamm mit spitzigen EisenzĂ€hnen ziehen und so ganz auskĂ€mmen), schliesslich das Aufkunkeln der spinnfertigen Hanfzöpfe. Nun kam die Arbeit am Spinnrad und spĂ€ter die am Webstuhl.

Die Hanfschleizerin am Werk. Bild aus: Dicziunari Rumantsch Grischun Bd. 3, S. 298.

Viele geĂŒbte und fleissige HĂ€nde waren nötig zur DurchfĂŒhrung dieser Arbeitsprozesse, und, obgleich dies alles bei uns lĂ€ngst vergessen ist, zeugen doch wenigstens noch ein paar Namen in unserer Kulturlandschaft von der frĂŒheren Hanfkultur: Hanfland, Hanferen, HĂ€nferli sind allenthalben als Ortsbezeichnungen gelĂ€ufig: allein in Wartau finden sie sich an sechs verschiedenen Orten, durchwegs in der NĂ€he der alten Dörfer. In Salez heisst ein Heimwesen Hanfgarten; ein Hanfland liegt sĂŒdlich von Sennwald. Der romanische Worttyp canval m. ‘Hanfacker’ dĂŒrfte (in der Verbindung Ăšr canval ‘Hanfacker’) im Wartauer Namen Fergfall weiterleben.

An diese Kultur der Hanfaufbereitung erinnert also unser Name Parossa, der den Anlass zu diesen Zeilen bildet.

Neben ihn stellt sich auch sein Zwillingsbruder Pradarossa in Wartau: Beide stammen sie aus altromanisch prau (da) rossa oder prada rossa ‘Wiese mit Hanfgrube’. Das romanische Wort rossa steht also fĂŒr die Hanf- oder WĂ€ssergrube.

Im Unterschied zum Wartauer Pradarossa, das noch ganz in der ursprĂŒnglichen romanischen Gestalt erhalten ist, zeigt unser FrĂŒmsner Parossa einige deutliche VerĂ€nderungen, die offensichtlich infolge der frĂŒheren Verdeutschung der Umgebung sich durchsetzten: Aus dem ebenfalls noch bezeugten Ă€lteren Prarossa wurde das erste -r- weggelassen (weil das rasche Aufeinanderfolgen desselben Konsonanten bei der Aussprache als störend empfunden oder fĂŒr ĂŒberflĂŒssig gehalten wurde). Das spielte sich sicherlich erst nach dem Sprachwechsel ab, als nĂ€mlich die nunmehr deutschsprachigen FrĂŒmsner den Namen gar nicht mehr verstanden. Noch einen Schritt weiter ging die Sprechvariante Prossa, die das «romanisch tönende» Parossa durch Auswurf des Vortonvokals -a- sozusagen ein wenig «verdeutschen» wollte – Ă€hnlich wie etwa der Bergname *Calanda hierzulande auch zu Glanna zusammengestaucht wurde.

A propos deutscher Einfluss: Es gibt FĂ€lle von Ros-Namen, die im Nachhinein fĂ€lschlicherweise mit dem Blumennamen der Rose zusammengeworfen wurden – so dass man oft eine ganz unzutreffende Vorstellung von einer Örtlichkeit vermittelt bekommt, wenn man solche Namen hört. Dieser Austausch wurde natĂŒrlich erst möglich mit dem Verschwinden der Hanfkultur und der damit zusammenhĂ€ngenden Begriffswelt. Darum nun oberhalb Sax ein Rosenberg (Wiesland am untersten Saxer Berg), oder in Wartau, bei Oberschan, die Rosenhalde (Hang gegen den MĂŒlbach abfallend, unweit von Pradarossa), in Gams ein Rosengarten (nördlich des Dorfes, ĂŒber Oberhueb, urkundlich 1462 Ros gartten) – alles FĂ€lle, wo man in alter Zeit nicht auf RosengĂ€rten gestossen wĂ€re! Doch so ist der Mensch: wo er eine Namenbedeutung nicht mehr versteht, versucht er ihr oft mit Ă€hnlichen AnklĂ€ngen einen neuen Sinn zu unterschieben und damit das Unbekannte sich wieder vertraut zu machen.

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