«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Schgun

(Grabs)

So heissen mehrere Heimwesen am vordersten Grabser Berg, am steilen, südostwärts zum Walchenbach abfallenden Sonnenhang, südlich des Weilers Walchen, unterhalb Jörler und Hänslisbünt, auf 700 bis 750 m ü. M., in einem recht abgelegenen, auf drei Seiten von Wald umgebenen Geländewinkel. Die Schreibung lässt die Aussprache des Namens durchscheinen: das -n wird selber nicht (mehr) ausgesprochen, man sagt Schguu; das in der Schreibung erhaltene -n markiert die Qualität des Vokals -uu- (geschlossen wie bei schweizerdeutsch Muus ‘Maus’, jedoch hier stark nasal).

 Blick vom Dorf Grabs (Raum Impeschina/Stütli) in Richtung Schgun (roter Pfeil) über dem Tobel des Walchenbachs. Links oben Margelchopf und Gampernei, darunter der Studner Berg, rechts der Grabser Berg, im Hintergrund rechts (unsichtbar) die Voralpseemulde. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Der Name ist offenkundig nicht deutscher Herkunft. Urkundlich erscheint er erstmals bereits 1463 als Schgun in derselben Schreibform. Wie sich der langen Liste der nachfolgenden urkundlicher Nennungen entnehmen lässt, war die Lautfolge Schg- dem Alemannischen nicht vertraut – sie zeigte sich als recht instabil, neigte zur Umstellung.

So schwanken die Schreibungen unseres Namens vom 16. Jahrhundert an zwischen schgun und gschun, auch gschtun und gtschun treten 1615 auf; im 18. Jh. kommt dann öfter Scun vor, auch gstun, Scon, Schcu, tschgun, Scun, Sgun. Natürlich muss man sich davor hüten, all diese linkischen Schreibversuche buchstäblich auffassen zu wollen: die gesprochene Form war seit Beginn der schriftlichen Überlieferung bis heute wohl stets dieselbe, nur die Verschriftung machte den Schreibern sichtbar Mühe. Die letzterwähnte Form, Sgun, traf man noch im 20. Jh. öfters an; sie ging offensichtlich von der Vorstellung aus, dass, gleich wie bei st- oder sp-, auch bei Sc- in romanischen Namen das s als «sch» zu sprechen sei, was sich nun allerdings nicht von selber versteht.

Noch eine Bemerkung zur Schreibform gschun: Dass der Wechsel von schg- zu gsch-  mehr als nur eine Schreibgewohnheit war, nämlich durchaus auch in die Aussprache eindringen konnte, daran erinnert das romanische Wort für ‘Papiersack’, bündnerdeutsch Schgarnutz ‘Papiersack’, das man auch in Grabs sehr wohl kannte, und das hier tatsächlich als Gscharnutz ausgesprochen wurde. Auch anderwärts zeigt sich, dass das Alemannische dem «romanischen» Sc- auszuweichen pflegte. So etwa auch beim Vorarlberger FlN Ischgarnei in der Gemeinde Sonntag (Grosses Walsertal), der 1392 als Schgarny, 1471 aber als Gscharney bezeugt ist. Es kann also trotz des oben Gesagten nicht ganz ausgeschlossen werden, dass auch im Fall unseres Namens zumindest vorübergehend eine Sprechform Gschun existiert haben könnte. Diese zeitweilige lautliche Instabilität des Namens kann aber nicht in Zweifel ziehen, dass seine Ursprungsform doch Schgun lautete. Davon hat also die Erklärung auszugehen.

Damit wenden wir uns der Herkunft des Namens Schgun zu, und diese liegt klar zutage. Nehmen wir es vorweg: Es ist dieselbe wie beim Montafoner Dorfnamen Tschagguns!

Der auf drei Seiten waldumsäumte Weiler Schgun, vom unteren Studner Berg (Bunzenhalde) her gesehen. Bild: Werdenberger Namenbuch.

In beiden steckt altrom. tschoc(ca) m. (f.) ‘Holzklotz, Stock, Wurzelstock, Baumstrunk’, ein ursprünglich vorrömischer Typ, der in anderer Überlieferung auch im Walserwort Tschuggen weiterlebt. Das romanische Wort lebt in seiner Grundform weiter im Namen Tschogg, der zwei kleine, flache Güter am oberen Grabser Berg, unterhalb von Muntlerentsch, über dem Vogelsang, bezeichnet. Es handelt sich dabei um einen typischen Rodungsnamen, zu welcher Gruppe auch die deutschen Begriffe Schwendi, Rüti, Stocken, Haueten, Brand zählen, die dann nach dem Sprachwechsel in Gebrauch gekommen sind. Nur mit dem Unterschied, dass die romanischen Rodungsnamen (zu denen neben tschoc[ca] etwa auch cavradüra, cusch, prasüra, runc, tscheppina gehören), bei uns auf eine bedeutend frühere Besiedlungsausbauphase verweisen (das heisst wohl, auf die Zeit vor dem 13. Jahrhundert – eben, solange man hier noch romanisch sprach).

Aus romanisch tschoc(ca), auf die vergrössernde Endung -un abgeleitet, ergab sich tschoccun m. ‘grosser Stock, Wurzelstock, Baumstrunk’, bzw. als Mehrzahl tschoccuns als Name für eine neu urbarisierte Fläche, wo nach der Abholzung die Wurzelstöcke im Boden blieben (und dann entweder vermoderten oder aber später nach und nach ausgegraben wurden).

Das also ist die Erklärung von Tschagguns. Der Dorfname wird lokal als Tschagguu ausgesprochen, das heisst, dass nicht nur das -s der Schreibform übersprungen, sondern, wie bei unserem Schgu(n), auch das -n- nicht mehr gesprochen wird.

 Das innerste Wohnhaus von Schgun - welch idyllische Lage! Bild: Werdenberger Namenbuch.

Nun stellt sich aber noch die Frage, wie denn aus Tschaggun(s) unser Schgun werden konnte. Dazu müssen wir etwas ausholen. In unserer Gegend kam es bei romanischen Namen, die auf der zweiten Silbe betont waren, oft zur sogenannten Synkopierung (zum Auswurf) des tonschwachen ersten Vokals. Dies bewirkte den Zusammenzug des Wortkörpers, der nun neu auf der ersten Silbe betont wurde. So wurde es vom (zugewanderten?!) deutschsprachigen Teil der Bevölkerung offenbar vorgezogen, die das «allzu Romanische» nicht gerne in ihre Sprechweise übernahmen.

Dazu einige Beispiele aus dem mittleren Werdenberg (die südlichste Gemeinde, Wartau, ist demgegenüber länger beim Romanischen geblieben und hat die alten Wortformen und Betonungsverhältnisse meist unversehrt erhalten, gleich wie in diesem Fall auch das Montafon):

Altromanisch valèra f. ‘Tal, Tobel, Bacheinschnitt’ > werdenbergisch *v’lär > Fler(weid) (Grabs)

Altrom. calanda f. ‘Geröllhalde’ > werdenbergisch *c’lanna: Glanna (Buchs/Sevelen)

Altrom. tscheppus ‘mit vielen Holzstöcken’ > werdenbergisch *tsch’pus > spus: (Ivel)spus (Grabs)

Altrom. pigliuotta f. ‘Stampfmühle’ > Palutta (Wartau!) > in Grabs *p’lut: (Iver)plut (Grabs)

In entsprechender Weise wurde im Werdenberg nun auch altes Tschaggun zu Tsch’gun gekürzt, das dann zu Schgun (gesprochen: Schguu) geworden ist.

Ausschnitt aus der Flurnamenkarte der Gemeinde Grabs. Bearbeitet von Hans Stricker. Erschienen 2003 als integrierender Teil des Werdenberger Namenbuches.

Sieht man sich die Lage des Weilers Schgun am vordersten Grabser Berg an, der bis heute auf drei Seiten von Wald umgeben ist, kann man sich leicht vorstellen, wie die Rodung dieses Sonnenhangs von den bereits urbarisierten Gebieten Amaschnun, Bufel, Graben und Walchen her (also aus nördlicher Richtung) bis zum Oberlauf des Walchenbachs und bis gegen Uelisrüti vorrückte. Offenbar war schon vor tausend Jahren der Grabser Berg so dicht besiedelt, dass immer wieder neue Randgebiete freigerodet werden mussten, um die grossen Familien unserer Vorväter ernähren zu können.

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