«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Stütli

(Buchs)

Unter diesem Namen kennt man in Buchs ein grosses Wohnquartier nördlich der Bahnhofstrasse, südlich vom Hanfland, zwischen der Technikumstrasse im Osten und dem Quartier Widen im Westen, also am Nordostrand (noch früher gar jenseits) des alten Dorfgebiets. Das Quartier wird unterteilt in Oberstütli und Understütli. Heute umfasst die Wohnzone das ganze Stütligebiet und ebenso die nordseitig anschliessenden Wohngebiete Äuli, Neuguet und Hanfland. Gemäss dem örtlichen Sprachgebrauch heisst es: man ist im Stütli, man geht ins Stütli. – Derselbe Name kommt auch bei anderen Dörfern der Umgebung vor: in Grabs nennt man so das Quartier am nordöstlichen Dorfrand und in Salez das Wohngebiet Stüdli nördlich der Wisle, beidseits der Bahnlinie (Hinder- und Vorderstüdli). Aus diesen unter sich ähnlichen Lagebeschreibungen lässt sich vermuten, dass dieser Name mit der Lage der Örtlichkeiten am Dorfrand in Zusammenhang steht.

Im Quartier Stütli in Buchs, hier die Unterstüdtlistrasse. Der einheitliche Häusertyp weist auf planmässige Überbauung (um/nach 1900) hin. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Handeln wir gleich eingangs eine im Grunde unbedeutende, aber doch recht ins Auge springende Eigenheit ab: Die Frage der Schreibung. Neben einfachem Stütli trifft man in Buchs und Grabs noch oft die Schreibung mit -dt-, also Stüdtli. Älter war diese eine Zeitlang recht üblich, und viele glauben heute noch, dass man so schreiben müsse. Dies trifft allerdings in diesem Fall nicht zu: Solche Häufungen von (eigentlich überflüssigen) Buchstaben waren oft nichts weiter als Produkte einer zur Üppigkeit neigenden barocken Schreibmode (ähnlich wie die bekannte «ck-dt»-Schreibung etwa beim Familiennamen Burckhardt). Solches Aufplustern von Wörtern oder Namen durch (zwar entbehrliche, jedoch vermeintlich «edle») Zusatzzeichen kann man häufig in der Schreibung von Familiennamen beobachten (wenn etwa «vornehmes» -y statt -i geschrieben wird, oder th statt t, ue statt ü, Hoessly statt Hösli, dann alle Meier-Varianten, usw.). Dieser Hang zur Aufpolierung wurde in Familiennamen dann schliesslich zur festen Norm und diente in der Folge gerne als sekundäres genealogisches Unterscheidungsmerkmal zwischen unterschiedlichen Stämmen desselben Grundnamens (wobei natürlich die Träger der ausgefallenen Schreibformen sich oft vornehmer dünkten). Auch die Schule spielte hier (im 19. Jh.) eine bedeutende Rolle, indem sie die Bedeutung solcher «graphischer Aufrüstung» betonte und den Schülern weitergab. Diese Mechanismen fanden auch in der Schreibung von Flurnamen Anwendung; man schrieb Flath, Bündtli und eben Stüdtli. In Wahrheit sind solche Zutaten aber nicht mehr als überflüssiger Ballast, den man getrost weglassen darf, lässt er sich doch vielfach historisch gar nicht rechtfertigen. Darum reicht die Schreibung Stütli vollauf.

Die ehemalige Stütlimüli (in traditioneller Schreibung) in Buchs, nachmals ein Lokal für kulturelle Anlässe. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Hier ist es aufschlussreich, die urkundlichen Schreibungen eines solchen Stütli-Namens näher zu betrachten. Wir wählen dazu den Grabser Fall, weil er weitaus am besten dokumentiert ist: 1537 stost sunahalb an die stüdly, 1650 stüdli, 1663 in Stüdle gelegen, 1691 oben durch gegen den stüdlenen (!), 1696 an Stüdli und an Hassen Pünt, 1735 Stüdli, Staüdtli (!), 1737 in der stüdtli, 1753 steüdtli, 1755 Stüdly, 1771 Steüdtli, 1793 die grosse Allmeind stüdli, 1801 stütli.

Blick vom hinteren Grabser Berg auf das Gebiet Stütli (Bildmitte, mit dem Altersheim Stütlihus) in Grabs. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Man sieht, dass in den ältesten Vorkommen noch durchwegs -dl- geschrieben wurde, also so, wie man heute noch in Salez schreibt und spricht. Interessant ist die Form gegen den stüdlenen von 1691; das ist die Lokativform (Dativ Mehrzahl) in [den] Stüdlenen zur Diminutivform Stüdli. So sagt heute auch in Grabs zwar niemand mehr, aber ich erinnere mich  noch gut an diese ältere Ausdrucksweise, zwar nicht bei diesem Flurnamen, aber sonst in der gesprochenen Mundart (wie ich sie noch im Ohr habe): Etwa beim Wort Göfli n. ‘Kleinkind’: s het mer vun Göflenen trommt ‘ich träumte von den Kleinkindern’; oder beim Wort Chälbli n. ‘Kälblein’: er ischt bin Chälblenen ‘er ist bei den Kälblein’. Doch fahren wir fort mit der Betrachtung der Belege: Bei 1735 Staüdtli und auch nachher mit steüdtli kommt nun zweierlei neu hinzu: 1) die Verhärtung von -dl- zu -tl- sowie 2) die «Verhauchdeutschung» von -ü- zu ‑äu-, eine naive Mode, die zu jener Zeit allgemein grassierte und sogar aus einem Fluri Lippuner irgendwo einen (nur geschriebenen!) Flaurei Leippauner machte …! Bemerkenswert ist auch 1737 in der stüdtli: Die Form verrät, dass der Name neu als eine im Grunde unsinnige weibliche Einzahlform aufgefasst wurde, was man so deuten muss, dass das Wort im Namen gar nicht mehr verstanden wurde, und dass zugleich auch die Lokativform *in den Stüdlenen ausser Gebrauch gekommen war. Die Belegreihe gewährt hier also Einblicke in einen Verfremdungsprozess, der aus einem sehr wohl verständlichen (deutschen!) Namen *in den Stüdlenen ein erstarrtes und inhaltsleeres im Stütli (so in Buchs; in Salez im Stüdli, in Grabs i der Stütli) gemacht hat.

Die Grabser begnügen sich offiziell mit der Schreibung Stütli-, wie es hier durchaus richtig ist. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Betrachten wir nun die Herkunft und Bedeutung des Namens Stütli: Das in ihm enthaltene Grundwort ist das alte deutsche Wort Staude, beziehungsweise hier natürlich alemannisch Stude f. ‘Staude, Strauch, Busch, Gebüsch, strauchartige, winterharte Pflanze; kleine stenglige oder krautige Pflanze’ (mit langem -u-). Schon althochdeutsch hiess es vor über 1000 Jahren studa, mittelhochdeutsch dann stude. In unseren ländlichen Mundarten ist es in vielfachem Gebrauch, auch in Zusammensetzungen bei mannigfachen Gewächsen, bei Kulturpflanzen für den strauchigen, teils holzigen Teil. Etwa in zusammengesetzten Ausdrücken wie Ärbsstude ‘Erbsenstaude’, Brombeeristude ‘Brombeerstaude‘, Chifelstude ‘Hülsenfruchtstaude’, Epeeristude ‘Erdbeerstaude’, Erlenstude ‘Erlenbusch’, Haselstude ‘Haselstrauch’, Heidelbeeristude ‘Heidelbeerstrauch’, Herpfelstude ‘Kartoffelkraut’, Holderstude ‘Holunderbusch’, Roesestude ‘Rosenbusch’, Sälflistude ‘Salbeipflanze’, Widestude ‘Weidenbusch’, usw.

Stude ist als Orts- und Flurname überaus häufig, vielfach für die früher zwischen den Dörfern weit verbreiteten Zonen von mit Gesträuch durchsetzten Weidegebieten, Magerwiesen oder Riedgebieten. Studen heisst in Grabs das nachmalige Dörfchen am Fuss des Studner Bergs, Studen heisst Wiesland am Saxer Berg, zwei Stüdeli gibt es in Grabs, dann mehrere Zusammensetzungen wie Steigstuden (Wartau), Simmistuden, Grossstuden (Grabs), Langenstuden, Zilstuden (beide Gams), Büntstuden, Madstuden, Studenfeld, Studenloch (alle Sennwald). Die Liste würde noch viel länger, wenn auch die heute ausgestorbenen Studen-Namen dazugenommen würden. Dazu kommt noch die Verkleinerungsform Stüdeli, wie sie mundartlich gebräuchlich ist und in Grabs auch an zwei Orten als Geländename vorkommt, auch drüben in Nenzing kennt man ein Stüdele. In Liechtenstein ist der Typ gleichfalls wohlbekannt: Studa (Triesenberg, Gamprin, Ruggell), Studaberg (Gamprin), Studabrunna (Ruggell), Studagass (Eschen), Studastrasse (Gamprin), Brunnastuda (Triesenberg), Remastuda (Mauren).

Zurück zu unseren drei Stütli/Stüdli: Der Name bezieht sich also überall auf ein Gebiet ausserhalb der Dorfsiedlung, das zur Zeit der Benennung noch als allgemeines Weideland (Allmend) diente und naturgemäss mit Buschwerk und Sträuchern – eben «Stauden» – durchsetzt war.

Ausschnitt aus der «Topographischen Karte des Canton's St.Gallen», Blatt Werdenberg (1846-1854). Die ungefähre Lage des Gebiets Stütli in Buchs ist gelb markiert. Aufnahme: Werdenberger Namenbuch.

Das Gebiet Stütli von Grabs etwa ist 1692 explizit als Allmend erwähnt, und zwar zog sich dieses («die almein stüdli») hinter dem Dorf bis gegen den Berghang hinauf. Die Unterscheidung zwischen Studen und Stüd(e)li lässt sich begrifflich wohl kaum genauer fassen; beide meinen wohl einigermassen dasselbe.

Hinter dem Dorf Grabs, im Gebiet Impeschina (das Haus links im Vordergrund), hinter dem Dorfquartier Stütli: hinten rechts die Gebäulichkeiten des Altersheims Stütlihus. Bild: Werdenberger Namenbuch.

Im Fall von Stütli in Grabs lässt sich noch eine interessante Beobachtung anfügen: Etwas weiter nordöstlich als dieses, hinter der Rietgass und unter dem Rietzungraben, liegt das Wiesland (und Haus) namens Impeschina (1463 erstmals als Buschina bezeugt). Der Name gehört in denselben Sachbereich, gehört wohl zu romanisch bostg m. ‘niedriges Gesträuch, minderwertiges, verbuschtes Weideland’, woraus die Verkleinerungsform bostgina f./koll. ‘Buschwerk, Niederwald’ – was dann der romanische «Vorgänger» zu unserem Stütli wäre, zu dem dieses die deutsche Übersetzung darstellt.

Wie kommt es aber, dass es bei uns überhaupt zu den zweisilbigen Formen Stüdli bzw. Stütli kam, wo wir doch daneben auch die dreisilbige Verkleinerungsform Stüdeli haben? Vielleicht darum: Neben der Grundform Stude f. ist in Teilen der (nördlichen) Deutschschweiz (ZH, ZG, LU, AG) auch eine Mundartform Stud f. ‘Staude’ gebräuchlich. Es ist nun zu vermuten, die Variante Stud sei früher weiter verbreitet und auch bei uns bekannt gewesen; auf jeden Fall lässt sich die Verkleinerungsform des Flurnamentyps Stüdli (Stütli) direkt und zwanglos von diesem Grundwort Stud ableiten. Das gilt dann gleichermassen für die Vorarlberger Reflexe Stüdli (Dalaas) und i da Stüdli (Gaschurn).

In Buchs gilt die Schreibung des Namens mit -dt- («-stüdtli-») noch immer als offiziell. (Nebenbei sei hier auch erwähnt, dass die offizielle Form «Wieden-» den für Ortsnamen geltenden Schreibregeln zuwiderläuft: es müsste, um der Aussprache gerecht zu werden, «Widen-» heissen.) Bild: Werdenberger Namenbuch.

Nun ist noch die Frage zu beantworten, wie es in Grabs und Buchs zur «Verhärtung» des -d- zu -t- (Stüdli > Stütli) gekommen ist. Es lässt sich nämlich zeigen, dass dies nicht eine vereinzelte oder zufällige Erscheinung ist, sondern dass dabei eine mundarttypische Gesetzmässigkeit vorliegt, die sich von Grabs namentlich talaufwärts weiterzieht. Man spricht dabei von einer Fortisierung (also Verhärtung) alter Lenis-Verschlusslaute unter dem Einfluss von nachfolgendem -l-. Entsteht nämlich eine Konsonantengruppe aus -b- + -l-, so wandelt sich das -bl- zu -pl-, entsprechend wird -gl- zu ‑ggl- und -dl- zu -tl-. Wir sagen daher Gaple statt Gable f. ‘Gabel’, weil hier das -l- direkt hinter dem -b- zu stehen kommt (aber bei Gäbeli n. ‘Gäbelchen’ bleibt das ‑b-, weil dort die beiden Laute (b und l) sich nicht direkt berühren). Entsprechend heisst es bei uns Nëëbel m. ‘Nebel’, aber nëplig ‘neblig’, Chneebel m. ‘Knebel’, aber chneplen ‘knebeln’, Hüüdeli n. ‘Lümpchen’, aber Hutlen m. ‘Lumpen’, dann Füüdeli n. ‘kleiner Hintern’, aber Fütle n. ‘Hinterteil’, Cheegel m. ‘Kegel’, aber chegglen ‘kegeln’, Brëëgel m. ‘aus Beeren, Körnern gekochter dicker Brei’, aber brëgglen ‘herabkollern, -prasseln’. Der Wartauer sagt Stuube f. ‘Stube’ und entsprechend dem bisher Ausgeführten auch Stüpli n. ‘Stübchen’ (was aber in Buchs und Grabs heute bereits nicht mehr bekannt ist).

Doch ist es folgerichtig, dass die hier beschriebene Gesetzmässigkeit in Grabs und Buchs auch das vielbesprochene Stüdli erreicht hat und es in Stütli verwandelte, während Salez ausserhalb dieser Wirkungszone liegt und sein Stüdli unbehelligt behalten konnte. Vive la différence!

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