«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

St.Ulrich

(Sevelen)

Den meisten Werdenbergern wird der alte Weiler dieses Namens bekannt sein. Er liegt nordwestlich des Dorfes Sevelen behäbig auf einer ausgedehnten, ebenen Geländeterrasse, leicht über dem Talgrund, oberhalb von Glat. Die älteren Seveler dürften sich noch daran erinnern, dass der Name früher auch Tuerich und Tuerig gesprochen wurde. Im «Geographischen Lexikon der Schweiz», Bd. 4, S. 437 (von 1906) heisst es zu der Siedlung knapp: «537 m, 12 Häuser, 48 reform. Einwohner, Ackerbau und Viehzucht, Stickerei». Von 1351 an ist der Ort urkundlich sehr häufig bezeugt (das Namenbuch zählt über 60 Belege auf): am Anfang meist als Sant U(o)lrich; 1574 kommt auch sant thuorich hinzu, 1631 sandt duorrich, 1657 sant uorich, 1687 dann erstmals nur duorich, worin wir leicht die ältere Sprechform Tuerich erkennen. Dieser Mehrzahl von eindeutig erscheinenden, unschwer zu verstehenden Formen steht nun allerdings ein vereinzelter, dafür besonders früher Beleg gegenüber, der vermeintlich eine andere Deutung nahelegen möchte. 

Der frühe Beleg findet sich im «Urkundenbuch der südlichen Teile des Kantons St.Gallen», Bd. 1, S. 170, herausgegeben von Franz Perret (1953), in einer Urkunde vom Jahr 1161, in welcher dem Kloster Pfäfers ein paar Leibeigene (ohne Angabe von deren Wohnort) überschrieben werden. Dort erscheint nämlich als Zeuge ein Hugo de Tûrigo – auch das eine isolierte Nennung ohne weitere Information zur Herkunft des Namensträgers. Die lokale Zuordnung des Dokuments scheint also durchaus Fragen aufzuwerfen.

 Blick von Osten auf Gemeinde und Dorf Sevelen. Der Weiler St.Ulrich liegt rechts von der Bildmitte auf der Terrasse über dem nördlichen Dorfteil. Luftbild: Hans Jakob Reich, Salez.

Franz Perret aus Mels (1904-1979), hochverdienter Staats- und Stiftsarchivar in St.Gallen, der schon ab 1936 frühe Quellen zur Geschichte Unterrätiens herausgab, wies diesen Hugo de Tûrigo nun ohne Zögern unserem St.Ulrich (oder eben Tuerig) zu («wo Pfäfers Güter besass»). Natürlich wusste Perret, dass in der Antike in der Altstadt von Zürich ein gallorömischer vicus und ein Kastell (auf dem Lindenhof) bestanden, und dass diese Siedlung (einst wohl eine römische Zollstation) urkundlich als Turegum des öftern erscheint. Dass der besagte Hugo de Tûrigo mit Turicum-Zürich in Verbindung zu bringen wäre, glaubte Perret nun aber nicht. Hätte er damit recht, dann wäre Tûrigo (1161) also die weitaus älteste Nennung unseres Weilernamens. Hier folgen wir dem verdienstvollen Autor des Urkundenbuches für einmal nicht – auch wenn unbestreitbar ist, dass das Kloster Pfäfers in Sevelen begütert war (man gehe nur den dortigen Namen Hof, Meierhof und Pfäfers nach). Aber Perrets Verknüpfung des Hugo de Tûrigo mit unserem Tuerig weist ihrerseits eine bedeutende chronologische Unstimmigkeit auf.

 

Blick von der Talebene (Raum Glatnerriet) auf die Terrasse von St.Ulrich. Darüber der bewaldete Seveler Berg mit dem Weiderücken von Inarin, links von diesem der Ferschmutchopf. Bild: Hans Jakob Reich.

Bevor wir auf Perrets These eingehen, wollen wir zunächst noch die älteren Autoren zu Wort kommen lassen.

Heinrich Gabathuler, dessen Ausführungen in den beiden Ausgaben 1928 und 1944 sich inhaltlich nur wenig unterscheiden und die ich hier daher zusammenfasse, sieht in St.Ulrich ein «ehemaliges Kirchdorf, jetzt Weiler auf anmutiger Matte». Dass es eine sehr alte Niederlassung sei, das bewiesen die Bauart der Häuser, die Bevorzugung von Kastanienholz als Baumaterial und die vielen Plattenwege, die von ihm ausstrahlen. Hier sei auch die alte Römerstrasse durchgegangen. Es scheine sicher, dass der ursprüngliche Name nicht von einem christlichen Schutzpatron herstamme, besonders wenn man sich der grosszügigen Fälschungen wichtigster Besitzesurkunden des Klosters Pfäfers, dem St.Ulrich gehörte, erinnere. Das Dörfchen sei sicher viel älter; der alte Name sei von einem christlichen überdeckt worden; ein heiliger Ulrich liege nicht vor. Von hohem Alter zeuge auch der Begräbnisplatz östlich von St.Ulrich im Glatnerwingert (Steinkistengräber). So kommt Gabathuler zum Schluss, dass der Name wohl zu keltisch durum ‘Stadt, Burg’ (1928) gehöre, vielleicht zu turicum ‘befestigter Platz’, keltisch duron (woraus auch Zürich).

Ulrich Friedrich Hagmann ist der Seveler Lokalhistoriker, der die «Geschichte der Gemeinde Sevelen» von Huldreich Gustav Sulzberger (1819-1888) neu überarbeitete und herausgab (Band 1, 1978, siehe S. 70f.). Er zweifelt nun nicht mehr an der Echtheit der St.Ulrichskapelle. Damit hat er recht, denn die sant uolrichs Cappell ist in einer in St.Gallen liegenden Urkunde aus dem Jahr 1490 («Spruch, den Zehnten in Sevelen betreffend») konkret erwähnt. Die einstige Existenz des Sakralbaus ist also überhaupt nicht in Zweifel zu ziehen, auch wenn von ihm heute keine baulichen Spuren mehr zu finden sind. Hagmann gibt sogar eine wohl mündliche Überlieferung weiter, wonach die Kapelle «im Garten neben dem Brunnen beim Hause des Christian Hagmann» gestanden hatte, und dass diese ursprünglich dem hl. Ulrich, später der hl. Maria-Magdalena geweiht war.

Hier mag man sich fragen, wie dieser Heilige hierher nach Sevelen kam. Der hl. Ulrich wurde um 890 geboren und starb im Jahr 973. Er stammte aus einer süddeutschen, alamannischen Adelsfamilie, und er erhielt seine Erziehung und Ausbildung von 900 bis 908 im Kloster St.Gallen. Im Jahr 923 wurde er zum Bischof von Augsburg geweiht. Er wirkte zu einer Zeit, da immer wieder Ungarneinfälle seine Diözese verwüsteten; an der Verteidigung der Stadt Augsburg beteiligte sich Ulrich selber als Anführer. Zu seiner Zeit regierte der ostfränkische König und spätere römisch-deutsche Kaiser Otto I. (der Grosse), der im Jahr 955 die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld besiegte. Bischof Ulrich galt als dessen enger Vertrauter. Ulrich war als asketisch, mildtätig und fromm bekannt; er genoss grosse Beliebtheit. Nach seinem Tod setzte beim Kirchenvolk eine Verehrung ein, die sich über weite Teile Europas verbreitete.

Er wurde zum Patron der Stadt und Diözese Augsburg. Sein Grabmal lag an der Südseite der damaligen Afrakirche in Augsburg. Heute stehen in Augsburg die katholische Stadtpfarrkirche «St.Ulrich und Afra» sowie die evangelische St.Ulrichskirche unmittelbar nebeneinander. Augsburg war ein wichtiges religiöses Zentrum; davon zeugt etwa auch der Umstand, dass hier im Jahr 1555 die Gleichstellung der beiden Konfessionen («Augsburger Religionsfrieden») endgültig erreicht werden konnte.

Ein Frühlingstag auf St.Ulrich. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Bischof Ulrich wurde nicht nur zu einem der bedeutendsten Volksheiligen. Vor allem in seiner Diözese und im süddeutschen Raum wurde im späten Mittelalter sein Name auch als Taufname sehr populär.

Zur ausserordentlichen Häufigkeit seines Namens trug daneben auch der Einfluss des mächtigen fränkisch-alamannischen Adelsgeschlechts der Udalrichinger (8. bis 11. Jh.) bei, das auch in Rätien über grossen Grundbesitz verfügte. Aus diesem Geschlecht gingen später das Haus der Grafen von Bregenz sowie das Geschlecht Montfort (> Werdenberg) hervor. Es ist daher nicht erstaunlich, dass mit dem Ruf des Kirchenmannes und über den Einfluss des herrschenden Grafenhauses das Patrozinium des Ulrich sich auch bei uns verbreitete. Neben dem St.Ulrichs-Patrozinium bei Sevelen wurde der Heilige auch in Graubünden verehrt, so in S-chanf, Müstair, Maienfeld, Uors (Lugnez), Vrin und Tersnaus.

Die Popularität und weite Verbreitung des Vornamens Ulrich zeigt sich auch an seinen vielfältigen Rufformen. Der Name geht zurück auf althochdeutsch Uodalrîh, was etwa heisst «reich an Besitz» (uodil m. ‘Besitztum, Erbgut, Heimat’ + rīhhi ‘reich, mächtig’). Er wurde als Udalricus latinisiert, erfuhr mundartliche Kürzung zu Uelri, Ueri(g) und Ueli, wurde bei uns auch häufig in der Distanzform Üeli (älter auch Üeler) verwendet. Auf derselben Basis (Uodalrîh) beruhen auch die bündnerromanischen, auf der Endsilbe betonten Formen Durích, Duríg, Durí sowie Jehli, Durisch, Durgiai, Risch, Disch und zahlreiche Zusammensetzungen (Caluori, Cadieli, Carisch, Cadisch, usw.).

Vor dem Hintergrund dieses Formeninventars lässt sich nun auch die Seveler Namensform Tuerig (Tuerich) für den Weiler St.Ulrich leicht herleiten: Sie ist durch (falsche) Abtrennung direkt aus Sant Uerig hervorgegangen, indem das -t- von Sant- an Uerig hängenblieb. Diese mundartliche Kurzform mitsamt ihrer Verschriftlichung ist nun aber für eine Form des 12. Jahrhunderts (Tûrigo) noch ganz unwahrscheinlich. Das ist die chronologische Unstimmigkeit, die ich eingangs kurz erwähnte. Daneben möchte ich keineswegs in Frage stellen, dass der Weiler St.Ulrich sicher alle Voraussetzungen für einen sehr alten Siedlungsplatz erfüllt. Aber da müsste vor allem die Archäologie noch weitere konkrete Anhaltspunkte liefern.

 Blick von oben auf die Terrasse von St.Ulrich. Im Hintergrund Vaduz und Schaan, darüber die Drei Schwestern. Bild: Hans Jakob Reich, Salez.

Hier sei am Rande noch eine Bemerkung zum weiblichen Vornamen Afra angefügt, den wir weiter oben schon gestreift haben: Dieser war uns im Werdenberg nämlich ebenfalls vertraut. Auch er war von Augsburg her zu uns getragen worden; die heilige Afra wird immer zusammen mit dem heiligen Ulrich erwähnt. Sie hatte im 3./4. Jh. gelebt und stammte aus Zypern. Über Rom gelangte sie nach Augsburg, liess sich dort taufen und wurde (zur Regierungszeit des Kaisers Diokletian im Jahr 304) während einer Christenverfolgung hingerichtet. Die Stätte ihrer Hinrichtung wurde im fränkischen Reich alsbald zu einem Wallfahrtsort. Ihr Kult ist bereits für das 6. Jh. bezeugt, und im 12. Jh. fand sich in der Churer Kathedrale ein St.Afra-Altar. In Grabs war Afra als Taufname noch vor einem Menschenalter recht populär. Er wurde hier ausgesprochen als t Òòfere, Koseform s Òòferli. Heute löst der Name (in seiner Mundartform) vornehmlich noch belustigtes Schmunzeln aus. Dies liegt allerdings weniger an ihm selber als an der verbreiteten Geschichtsvergessenheit unserer Zeit, die keine Ahnung mehr hat von den historischen Zusammenhängen.

Am Schluss eine Anmerkung in eigener Sache: Hier ist noch ein Fehler zu korrigieren, der dem Autor des Werdenberger Namenbuches bei der Abfassung des Deutungstextes zu St.Ulrich (Sevelen) unterlaufen ist. Man liest dort nämlich die sinnwidrige Formulierung: ‘[Kapelle], die das Patrozinium des hl. Sebastian [!] führte’. Natürlich steht dies in Gegensatz zur Wirklichkeit und auch zum vorausgehenden Aufbau der Deutung. Der ungewollte Fehler ist wohl passiert durch das maschinelle Einkopieren des Standardwortlautes der Deutungsformel während des Redaktionsvorgangs von einem anderweitigen Kapellennamen (einer Sebastianskapelle) her, wobei dann dummerweise die beabsichtigte Ersetzung des Heiligennamens aus unbekannter Ursache unterblieb. Da dies auch beim nachfolgenden Korrekturdurchgang nicht gesehen wurde, wird nun dieser sinnstörende Fehler für alle Ewigkeit im Buch stehenbleiben. Der Leser möge dem damals stets unter hohem Zeitdruck (und ohne Zweitkorrektor) arbeitenden Autor den Lapsus nachsehen.

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