«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Römische Truppen auf dem Marsch. Ausschnitt aus den Reliefs der Traianssäule, wohl von Apollodor von Damaskus (113 n. Chr.). - Aus: Conrad Cichorius, Die Reliefs der Trajanssäule, 1. Tafelband. Berlin 1896.

Rätien als Grenzprovinz

Nun konnte Rom dem rätischen Raum die ihm zugedachte Rolle als sicheres Aufmarschgebiet gegen die Germanen aufzwin­gen. Rätien stand fortan unter der Aufsicht eines römischen Procurators mit Sitz in Augsburg (Augusta Vindelicum).


Die römische Provinz Raetia (gelb) auf einer historischen Karte. Germanien und Rätien im Historischen Handatlas von Droysen, 1886. - Aus: Wikipedia (unter: Räter). Public Domain.

Der grösste Teil der rätischen Mannschaft wurde in den römischen Heeresdienst eingezogen und deportiert. Unverzüglich wurde durch den Bau imposanter Fernstrassen Rätien an das römische Verkehrsnetz angeschlossen; eine Hauptverkehrsachse verband Gallien über das helvetische Gebiet mit Brigantium (Bregenz); eine zweite führte von Italien über Splügenpass, Chur und Luziensteig durch Liechtenstein und das Vorarlberger Rheintal ebenfalls nach Bregenz (ein Teilstück der römischen Strasse wurde in Schaan gefunden, ebenso zwei Legionärshelme aus dem 1. Jh. n. Chr. sowie zahlreiche Münzen aus mehr als vier Jahrhunderten römischer Herrschaft). Dazu kam später wohl auch eine linksrheinische Route vom Bodensee nach Sargans (Grüninger 1977, 15). Im 2. Jh. entstanden entlang der Heerstrasse römische Gutshöfe, deren Grundmauern zum Teil ausgegraben worden sind, namentlich an der Walenseeroute und in Liechtenstein, so in Flums, Sargans, Mels, Balzers (Gutenberg), Triesen, Schaan, Mauren, Nendeln und Schaanwald.

Nur wenige Jahrzehnte dauerte die militärische Besetzung des Landes. Mittlerweile waren Rätien und Helvetien zum fest ein­gegliederten römischen Binnenland geworden; die Truppen wurden zum grössten Teil in andere Reichsgebiete verlegt. Es begann eine mehrhundertjährige Friedenszeit, in der Handel und Wandel in bis dahin nicht gekanntem Ausmass aufblühten. Seit der Regierungszeit des Kaisers Claudius (um 50 n. Chr.) bildete nun Rätien zusammen mit Vindelizien die römische Provinz Raetia mit der Hauptstadt Augsburg.

Allmählich breitete sich die lateinische Sprache neben den alteinheimischen Mundarten der Räter und Kelten aus, zunächst in den städtischen Verwaltungs‑ und Handelszentren (wie Bregenz, Rankweil, Chur), wo römische Beamte, Soldaten und Händler den Ton angaben. Später passte sich allmählich auch die Landbevölkerung den neuen Verhältnissen an. In ihrem Mund nahm das importierte gesprochene («vulgäre») Latein aber sogleich eine eigene, von den alten Landessprachen in Wortschatz, Intonation, Wort- und Satzbildung mitgeprägte Entwicklung.

Allerdings blieben die rätische und die keltische Sprache hierzulande noch über längere Zeit neben dem Lateinischen weiter in Gebrauch, sicher bis ins 2. Jh. (Bilgeri 1976, 28), in verkehrsferneren Gebieten wohl noch bedeutend länger. Zu einer durchgreifenden Romanisierung der Räter und Kelten kam es erst, als das römische Element unter ihnen Verstärkung erhielt durch die Flüchtlinge, die infolge der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Germanen im Norden der Provinz Rätien aus dem süddeutschen Raum zurückwichen, und als das Land auch durch die Christianisierung sich nun mehr und mehr nach Süden orientierte (Keller 1963, 162).

Mit dem endgültigen Aufgehen der vorrömischen Sprachen in der importierten lateinischen Volkssprache (vgl. Stähelin 1948, 314ff.), dem sermo rusticus, beginnt die Geschichte der rätoromanischen Sprache.