«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Ausschnitt aus der ersten Seite des St.Galler Codex Abrogans, um 790, ein lateinisch-althochdeutsches Glossar, dessen in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrte Abschrift (Codex Sangallensis 911) als das älteste erhaltene Buch in deutscher Sprache gilt. Public Domain.

Churrätien wird zweisprachig

Das Zusammenleben des romanischen Volkes mit dem im Lande hausenden deutschen Adel und dessen Gesinde musste nun aber mit der Zeit – zusammen mit zunehmendem Handelsverkehr und sicher nochmals neuen Schüben alamannischer Zuwanderer – die Verbreitung des Deutschen unter den Alteingesessenen begünstigen. Unter den in den Rankweiler Urkunden des 9. Jhs. aufgezählten Zeugen tragen noch rund drei Viertel romanische, der Rest germanische Namen; dieselben Werte ergeben sich bei der namenstatistischen Auszählung der drei Urkunden von Grabs und Gams aus der Zeit um 835-850 (vgl. UBSG 1, Nr. 33 und Nr. 39; ferner Bilgeri 1976, 79). Angesichts der damals in den romanischen Ländern allgemein zu beobachtenden modischen Ausbreitung germanischer Namen kann sich allerdings hinter manchem Träger eines solchen noch ein Romane verbergen. Doch die Zeit arbeitete nun ganz für das Deutsche.

Erste Umbenennungen von Ortschaften lassen sich im Urbar des Reichsgutes um die Mitte des 9. Jhs. beobachten: Ranguila (Rankweil) erscheint für Vinomna, Feldchiricha tritt neben ecclesia sancti Petri ad Campos (Altenstadt; vgl. BUB 1, 376), das alte Ripa (='Ufer') am oberen Walenseeufer wird verdeutlicht mit Vualahastad (Walenstadt: das 'wälsche [nämlich: noch romanische] Gestade'; vgl. BUB 1, 382).

Nun hielten die Rivalenkämpfe unter den grossen Geschlechtern des Landes auch nach der Teilung des Karolingerreiches weiter an (Bilgeri 1976, 86ff.). Durch ein schwaches Kaiserregiment begünstigt, vermochten der Adel, die Klöster (St.Gal­len!) und allmählich auch der Churer Bischof ihren Besitzstand und damit Macht und Einfluss auszudehnen, zum Schaden der Zentralregierung. Geistliche und weltliche Gewalten waren daran, sich zum eigentlichen Landesherrentum emporzuarbeiten, und gerieten dadurch in harte Gegnerschaft.

Aus diesen Wirren zur Zeit des letzten Karolingers Ludwigs des Kindes (gestorben 911), die durch die schweren Ungarneinfälle noch verschlimmert wurden, gingen schliesslich im frühen 10. Jh. die Grafen von Bregenz als neue Landesherren und Grafen von ganz Rätien hervor. Sie waren es auch, die die Wiedererrichtung des Herzogtums Alamannien veranlassten und eine lang dauernde Verbindung Rätiens mit diesem Herzogtum einleiteten.

So waren nun die Gaue am oberen Bodensee, der Rheingau (unteres Rheintal) und der Argengau (um Bregenz) seit langem erstmals wieder mit Rätien politisch vereinigt. Dadurch ging die Bedeutung der Hirschensprung-Schranke auch als Sprachgrenze nun schnell zurück.

Gleichzeitig begann sich in Graubünden die Stellung des Bischofs von Chur als Hüter der Pässe durch königliche Gunst wieder zu festigen. Es entwickelte sich hier ein mächtiger Bischofsstaat, was die Machtbasis der Grafen von Rätien zuneh­mend auf das Gebiet unterhalb der Landquart verwies.