«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Ausschnitt aus der Tabula Peutingeriana (kartografische Darstellung, die das römische Straßennetz im spätrömischen Reich von den Britischen Inseln über Mittelmeerraum und Nahen Osten bis nach Indien und Zentralasien zeigt). Hier in der Mitte der Bodensee, darunter die Alpenkette. Bild gemeinfrei.

Churrätien wird unabhängig

Nach dem Tode Theoderichs im Jahr 526 ging die Macht des Ostgotenreiches rasch zu Ende. Von Frankenreich und Byzanz gleichzeitig bedrängt, wurde es immer schwächer, bis schliesslich um 537 die gotische Herrschaft über Rätien beendet und von der fränkischen abgelöst wurde. Immerhin aber liessen die Franken die hergebrachte Verfassung Rätiens weiterbestehen und begnügten sich mit einer lockeren Schutzherrschaft. Die innere Führung Rätiens (Bischof, Präses, Dux) blieb mit der Genehmigung des Königs weiter in der Hand der einheimischen Adeligen, unter denen während zwei Jahrhunderten die Familie der Viktoriden eine hervorragende Stellung einnahm. Abgesehen von den fränkischen Truppendurchzügen nach Italien und der Gefahr, die den Grenzen von den Grossmachtkämpfen zwischen Franken, Langobarden, Goten und Byzantinern her drohte, begann für unseren Raum gegen Ende des 6. Jhs. wieder eine längere Friedensperiode.

Mit dem Einbezug Rätiens in den fränkisch-merowingischen Machtbereich begannen sich die schon gelockerten alten kirchlichen und kulturellen Beziehungen zu Italien schrittweise aufzulösen. Die Franken verfolgten langfristig das Ziel, die kirchliche Abhängigkeit ihrer Gebiete vom Ausland zu lösen und sie der eigenen Landeskirche einzugliedern. Bereits 599 zeigte sich die neue Ausrichtung der rätischen Kirche, als Bischof Theodor von Chur, der mit dem Mailänder Oberhirten in Streit geraten war, zu seinen fränkischen Amtsbrüdern nach Gallien ging, und als 614 Bischof Victor von Chur auf der von König Chlothar II. nach Paris einberufenen Synode der fränkischen Kirche erschien (Bilgeri 1976, 42). Seit etwa 600 hatte Chur keine direkte Fühlung mehr mit der Mailänder Kirchenprovinz (Büttner/Müller 1967, 22f.).

Der Zerfall der fränkischen Macht in der zweiten Hälfte des 7. Jhs. begünstigte nun die Unabhängigkeit Rätiens. Zwi­schen 640 und 715 (Dietze 1931, 247ff.) erfreute sich das Land einer weitgehenden Selbständigkeit. Es umfasste nun im Osten auch den Vintschgau, der (als ehemaliger Teil der Raetia II) durch die fränkische Politik nach Churrätien gezogen worden war; die Grenze des Bistums Chur verlief nun bei Meran. Den Inn abwärts aber reichte es nicht über Martina hinaus; dafür war um 600 auch das Bergell dem Bistum Chur unterstellt worden.


Churrätien im Frühmittelalter zwischen 9. und 11. Jahrhundert. - Aus: Reinhold Kaiser, Churrätien im Frühen Mittelalter, Basel 22008.

Zur selben Zeit wurden auch im Bodenseeraum Ansätze einer kirchlichen Ordnung lebendig - zweifellos noch in Anlehnung an die Reste älteren römischen Christentums in dieser Gegend. Das zu Anfang des 7. Jhs. entstehende Bistum Konstanz war noch aus der rätisch-christlichen Welt herausgewachsen, was schon durch den Namen von dessen erstem Bischof, Gaudentius, bezeugt wird. Zugleich aber befand sich dieses neue Bistum nun ganz im Einflussbereich des alamannischen Herzogs, ein Einfluss, der sich im Lauf des 7. Jhs. immer stärker bemerkbar machte. So kam das untere Rheintal nördlich des Hirschensprungs (soweit es mittlerweile besiedelt und alamannisch geworden war), alsbald unter konstanzische Aufsicht, ebenso die Ufer des östlichen Zürichsees mit Benken bis vor Schänis; auch Glarus stand unter kirchlicher Obhut von Konstanz. Daher ergab es sich, dass die Diözesen Chur und Konstanz sich nun am Panixer- und Kistenpass berührten (vgl. Büttner/Müller 1967, 32).

Noch 615, nach dem Tode des Gaudentius, als der alamannische Herzog vergeblich versucht hatte, den Glaubensboten Gallus zum neuen Bischof am Bodensee zu machen, wurde an dessen Statt und auf dessen Bitte hin nochmals ein Angehöriger des rätischen Klerus als Bischof in Konstanz eingesetzt, nämlich der Diakon Johannes aus Grabs. Bei diesem hatte Gallus, wie überliefert ist, kurz zuvor als Gast geweilt (Hilty 2001, 96f.). Die Flucht nach Grabs, «wo das Christentum viel tiefere Wurzeln besass als unter den Alamannen des Bodenseeraums», war eine wichtige Station im Leben von Gallus: Hier entschied er sich, an die Steinach zurückzukehren. Hier, in Grabs, wurde der Grund gelegt für die Entstehung von Kloster und Stadt St.Gallen.

Die Viktoriden unterhielten enge und fruchtbare Beziehungen zum Kerngebiet des fränkischen Reiches. Dies tat sich in starken religiösen Einflüssen kund, namentlich in der Ausbreitung vieler fränkischer Patrozinien von Frankreich nach Rätien und nun auch nach St.Gallen.

Bis heute nimmt die bündnerromanischen Kirchensprache, also der kirchliche Wortschatz des Rätoromanischen, im Schnittpunkt alter südlich-italienischer und jüngerer westlich-fränkischer Einflüsse eine eigentümliche und auffällige Sonderstellung ein. Dazu hat Jakob Jud eine grundlegende Studie vorgelegt (Jud 1919).

Auch auf rechtlichem Gebiet hatte die Ausrichtung nach Westen bedeutsame Folgen: Das rätische Gesetzbuch, die Lex Romana Curiensis, welche in Abschriften aus dem späten 8. Jh. erhalten ist, stellt demnach eine Verbindung der römischen Rechtstradition Rätiens mit dem im fränkischen Gallien gültigen Römerrecht der Westgoten dar (vgl. Meyer-Marthaler 1959).