«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Schlacht zwischen Römern und Germanen, Marmorrelief auf dem Ludivisi-Sarkophag, der Reiter in Feldherrenpose am oberen Rand stellt vermutlich Kaiser Hostilian dar (251/252). Public Domain.

Sonderentwicklung Rätiens

Unterdessen hatten die Goten die Apenninenhalbinsel erobert. Die Verteidigung des Limes hörte auf; die Verbindungen Rätiens zum «Mutterland» Italien brachen ab. Zu allen Seiten von - teils feindlich gesinnten - germanischen Staaten und Völ­kern umgeben, blieb Rätien fortan ganz auf sich gestellt. Durch das Erlöschen der kaiserlichen Besitzrechte über die zahlreichen Domänen wurde, namentlich in der weniger exponierten Raetia prima südlich des Bodensees, die Stellung der einheimischen Grossgrundbesitzer gewaltig gehoben. Sie vor allem waren an einer Erhaltung der Sonderstellung Rätiens interessiert und daher gewillt, dessen Unabhängigkeit zu verteidigen. Rätien beschritt damit eine Entwicklung, die wesentlich abwich von derjenigen der übrigen weströmischen Provinzen, welche fast alle von der römischen unmittelbar unter germanische Herrschaft gerieten (Dietze 1931, 55f.).

Zu einem neuen Anschluss Rätiens an Italien kam es erst, nachdem der Ostgote Theoderich im Jahre 493 den germanischen König Italiens, Odoaker, besiegt hatte (Dietze 1931, 79ff.). Wieder galt es, aus den Alpenländern ein Bollwerk Italiens gegen die nördlich benachbarten Germanen zu machen. Dort waren unterdessen die Alamannen von Frankenkönig Chlodwig be­siegt (496) und unterworfen worden. Ein Teil der Geschlagenen begab sich unter den Schutz Theoderichs (der die aufsteigende fränkische Macht zu fürchten hatte) und begann sich an den Nordrändern Rätiens - also namentlich im unteren Rheintal bis zum Hirschensprung - niederzulassen.

Diese alamannische Einwanderung, da von oben gelenkt, geschah in durchaus friedlicher Weise. Anders wäre die Festlegung der zu Verteidigungszwecken nicht eigentlich geeigneten Linie Hirschensprung-Kummenberg als Südgrenze dieser alamannischen Besiedlung (aus der später die Bistumsgrenze zwischen Chur und Konstanz sowie eine Gaugrafschaftsgrenze wurde) kaum einleuchtend. Theoderichs Absicht lag aber gerade darin, diese Alamannen in Grenznähe anzusiedeln, um in ihnen eine stets schlagfertige Truppe zur Verteidigung der Grenze zu besitzen.

Mit dieser alamannischen Zuwanderung war für das Romanentum der Verlust des Bodenseeufers in die Wege geleitet. Nördlich des Hirschensprungs sprach jetzt der überwiegende Teil der Bevölkerung deutsch, und mit ihm hielten nun auch germanische Kultur und Verfassung, vor allem aber auch germanisches Heidentum Einzug (Dietze 1931, 94).

Das südliche Rätien dagegen vermochte seinen romanisch-christlichen Charakter in Bevölkerung, Sprache, Kultur und Rechtsleben noch weiter zu bewahren. Als Diözesangebiet des Bistums Chur und später auch als eigenstaatliches Territorium Churrätien schloss sich das Gebiet südlich des Hirschensprungs von dem alamannisch gewordenen Nordteil Rätiens ab. Damit fiel Churrätien zugleich die Abwehrtradition der früheren römischen Gesamtprovinz gegenüber den in bedrohliche Nähe gerückten germanischen Nachbarvölkern zu.