«Namen sind ungeschriebene Geschichte»

Der Personenname: Schichten und Kategorien

Als Ă€lteste Namenschicht innerhalb der christlich-lateinischen Tradition unseres Raumes lĂ€sst sich die spĂ€trömisch-frĂŒhchristliche Namenschicht aus der spĂ€ten Kaiserzeit festlegen, also der Zeit etwa zwischen den Jahren 300 und 550. Diese Schicht der sogenannten «Signa» (Einzahl: das «Signum») ist uns zugĂ€nglich vor allem aus den Inschriften (Kritzeleien) in den Katakomben von Rom, in welchen uns zehntausende von Namen ĂŒberliefert sind. In RĂ€tien werden jene Namen hierher gerechnet, welche der römisch-griechischen Tradition entstammen und vor dem Jahre 1000 in unserem Raum (also in GraubĂŒnden und UnterrĂ€tien) zu belegen sind.

Als Beispiele seien Namen genannt wie Gaudenz, Gadient, Godenzi (alle zu Gaudentius), Vieli, Cavigelli (zu Vigilius), Maissen (Maximus), Senti (Maxentius), Sonder, Sandri, Tschander (Alexander), Aliesch (Alexius), Seli, Sele (Basilius), Cadonau, Nay (Donatus), Caflisch (Felix).

In RĂ€tien hatten sich noch zur Zeit der Karolinger (also im 8.-9. Jh.) grosse Teile des spĂ€tantiken, zum Teil auch frĂŒhchristlichen Namenbestandes erhalten.

Einen Eindruck von dieser antiken Namenwelt gibt uns eine (unvollstÀndige) Liste der rÀtoromanischen Namen, wie sie im RÀtien jener Zeit gebrÀuchlich waren. Diese Liste ist geordnet als «Rangliste» nach der HÀufigkeit der Namen: Victor, Vigilius, Silvanus, Dominicus, Ursicinus, Valerius, Ursus, Benedictus, Fontejus, Vitalis, Constantius, Vincentius, Honoratus, Laurentius, Magnus, Paulinus, Viventius, Donatus, Martinus, Paulus, Salvia, Maxentius, Maurus, Gaudentius, Valentianus, Caecilia, Romanus, Amatus, Germanus, Gregorius, Columba, Justinus, Constantinus, Silvester, Tello, Scholastica, Bonifatius, Clemens, Helena, Agathe, Antonius, usw. (vgl. RN 3, 19s.).

Wir finden solche Namen in grosser Zahl, wenn wir die UrkundenbĂŒcher durchstöbern, die die Ă€ltesten greifbaren Dokumente unseres Raumes wiedergeben. In der Folge seien einige der Ă€ltesten Dokumente aus dem Urkundenbuch der sĂŒdlichen Teile des Kantons St.Gallen (UBSG) zitiert:

Im Jahre 451 erwÀhnt Abundantius, Bischof von Como, seinen Churer Amtsbruder namens Asinio (UBSG Nr. 2).

Im Jahre 548 errichtet ein Paulinus in Chur dem im RĂ€terland betrauerten Bischof Valentian, seinem Vorfahren, ein Grabmal (Nr. 3).

Im Jahre 612 findet der heilige Gallus auf der Flucht vor dem Alamannenherzog Cunzo Zuflucht bei Diakon Johannes in Grabs, im christlichen rÀtischen Land. Der Gastgeber wird drei Jahre spÀter Bischof von Konstanz, als Nachfolger von Gaudentius (Nr. 4, 5).

Um 720 geloben rÀtische Mönche im Kloster St.Gallen Gehorsam und BestÀndigkeit. Ihre Namen lauten: Constantius, Exsuperatus, Petrus, Marcus, Augustus, Viventius, Johannes, Stephanus, Vincentius, Silvester, Valerius, Matheus.

Diese fĂŒr RĂ€tien typische Namenschicht ist in den umliegenden Gebieten nicht in dieser Dichte vorhanden. Sie ist dort durch eine Lage germanischer Namen sowie von Heiligennamen verschĂŒttet worden, die sich zwar auch in RĂ€tien um das Jahr 1000 ausgebreitet hat, jedoch hier im Gegensatz zu den Nachbargebieten die Ă€ltere Namentradition nicht ganz zu ĂŒberdecken und damit auszumerzen vermochte. Dennoch verschwand dann auch in RĂ€tien ein grosser Teil des alten Namenbestandes nach der Jahrtausendwende; dafĂŒr tauchten nun viele neue Namen auf, die zuvor wenig oder kaum bekannt waren.

Wir meinen die germanische Namenschicht. Mittlerweile hatte das einstmals unabhĂ€ngige ChurrĂ€tien seine EigenstĂ€ndigkeit verloren; durch eine VerfĂŒgung Karls des Grossen zu Anfang des 9. Jhs. ĂŒbernahm in Chur ein frĂ€nkischer (also deutschsprachiger) Graf die weltliche Macht, und auch als Inhaber des Bischofamts sind seit etwa dem 12. Jh. nur noch TrĂ€ger deutscher Namen nachgewiesen. Diese AmtstrĂ€ger zogen ihrerseits deutsche Dienstleute nach sich, und das Prestige des Deutschen als der Sprache der Oberschicht fĂŒhrte nun alsbald zu einer mĂ€chtigen Ausbreitung deutscher Namen.

Das Althochdeutsche, also die deutsche Schreibsprache des 8.-11. Jhs., verfĂŒgte ĂŒber ein System zweigliedriger «sprechender» Namen – das heisst, der Name drĂŒckte eine Eigenschaft aus, die man sich fĂŒr den Sprecher wĂŒnschte (wobei ursprĂŒnglich auch magische Vorstellungen mitspielten). Die Zweigliedrigkeit der Namen kommt etwa in folgenden «Vollformen» zum Ausdruck:

Uodalrich (modern: Ulrich): < ahd. uodal ‘Erbgut’ + rich ‘reich’: also ‘reich an Erbgut’. Dieser Name breitete sich in RĂ€tien ĂŒber die Grafen von Gamertingen und Bregenz aus, unter denen er hĂ€ufig war.

Ebarhart (modern: Eberhard): < ahd. ebur ‘Eber’ + hart ‘kĂŒhn, tapfer’: also ‘kĂŒhn wie ein Eber’.

Kuonirat (modern: Konrad): < ahd. kuoni ‘kĂŒhn’ + rat ‘Ratschlag’: also: ‘kĂŒhn im Rat’.

Aus solchen Doppelnamen entstanden in der Folge zahlreiche Kurz- und Koseformen, die unsere Namenwelt ungemein bereichert haben. FĂŒr die oben genannten Namenbeispiele sei nur im Vorbeigehen erinnert an einige solche Kurzformen, die sich aus ihnen entwickelt haben: Ulrich > Ueli; Eberhard > Eberli; Konrad > Kunz, KĂŒnzler, Kuoni, Kuratli, Curti.

Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass TrÀger germanischer Namen in RÀtien nicht unbedingt auch deutscher Muttersprache sein mussten! Ganz West- und Mitteleuropa wuchs seit merowingischer und karolingischer Zeit in eine germanische Namengebungstradition hinein, die von den herrschenden Feudalstrukturen geprÀgt war. Dies darf uns indessen nicht zum Schluss verleiten, dem Vorkommen germanischer Personennamen bei den frÀnkisch beherrschten Galloromanen Nordfrankreichs oder im langobardischen Oberitalien entspreche dort auch eine germanische Volkssprache!

RĂ€tien nahm hier insofern um die Jahrtausendwende eine Sonderstellung ein, als es inmitten einer germanisch geprĂ€gten Umwelt noch gleichsam als erratischer Block die Namenstruktur einer spĂ€trömischen Provinz erhalten hatte. Doch handelt es sich dabei letztlich nur um eine EntwicklungsverspĂ€tung: Auch in RĂ€tien setzt sich das germanische Element seit dem Hochmittelalter krĂ€ftig in Szene, in den Namen wie im Sprachlichen ĂŒberhaupt. Schon im karolingischen Reichsurbar aus der ersten HĂ€lfte des 9. Jhs. sind von insgesamt 103 erwĂ€hnten Namen deren 50 germanisch. Freilich: fĂŒr jene Zeit bildet dieses Dokument noch eine Ausnahme. Es waren ja vor allem die mit Königslehen ausgestatteten Angehörigen der Oberschicht der Grundbesitzer, die hier aufscheinen, und unter ihnen hatte sich allerdings bereits im Sinne einer Modeerscheinung die Gewohnheit ausgebreitet, germanische Namen zu tragen. Es zeichnet sich also so etwas wie eine soziale Gliederung der Namenschichten ab.

Bei den Mönchslisten der Libri Confraternitatum, der sogenannten VerbrĂŒderungsbĂŒcher der Klöster MĂŒstair, Cazis, Disentis und PfĂ€fers, zeigt sich dagegen noch ein anderes Bild, denn hier dominieren die alteinheimischen Namen noch klar: um 850 tragen nur in Cazis mehr als 12% der Genannten germanische Namen. Ein Vergleich mit den etwa gleichzeitigen Listen des lombardischen Klosters Leno bei Brescia ist aufschlussreich: Dort tragen von 220 erwĂ€hnten Personen deren 151 (also 69%!) germanische Namen (vgl. RN 3, 120). Und in einer Liste der Kanoniker der Stephanskirche zu Lyon sind es zur selben Zeit gar 82% germanische Namen! Der Gegensatz zu RĂ€tien könnte kaum augenfĂ€lliger sein.

Der Hauptharst der in RÀtien sich ausbreitenden germanischen Namen gehört also ins Hochmittelalter (also in die Zeit zwischen 1000 und 1250) und schart sich um wenige Leitnamen: Kuonrad, Uodalrich, Ruodolf, Hermann, Hartmann, Wilhelm. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich dabei um die Namen deutscher Könige und Kaiser oder Herzöge von Schwaben.

Es folgen die biblischen Namen. Die Verbreitung der Namen biblischer Herkunft setzt in RĂ€tien relativ spĂ€t ein. Sie ist im wesentlichen eine hochmittelalterliche Erscheinung. Immerhin erschienen sie noch frĂŒh genug, um bei der in diesem Zeitraum einsetzenden Bildung von Beinamen – und damit spĂ€ter von Familiennamen – eine wichtige Rolle zu spielen. Dabei waren es weniger die Namen des Alten als vielmehr die des Neuen Testaments, welche sich seit dem 10., 11. Jh. in ganz Europa rasch ausbreiteten und vielerorts zu dominierenden Gruppen innerhalb einer ganzen Namenlandschaft wurden. Warum kam es zu einer solchen Invasion biblischer Namen?

Grundlegende Änderungen in der Namenstruktur einer Grossregion gehen fast immer auf gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche VerĂ€nderungen der MachtverhĂ€ltnisse zurĂŒck. Über eine Reihe von Konzilen hatte die römische Kirche nichtorthodoxe, also abweichende Lehrmeinungen (Arianer, Nestorianer, Monotheletismus) ausgeschaltet und die Zentralgewalt verstĂ€rkt. Mit dieser Straffung der dogmatischen SĂ€tze und ihrer Ausrichtung auf die römische Lehrmeinung nahm auch der Einfluss der Kirchenleitung auf die Gliedkirchen zu. Diese ZusammenhĂ€nge wurden nun auch in der verĂ€nderten Namentradition spĂŒrbar. Bis ins 5. Jh. waren die Namen der Christen nicht grundsĂ€tzlich von denen der Heiden verschieden. Der Brauch, anstelle der altĂŒberkommenen, «heidnischen» Eigennamen die Namen von Menschen zu wĂ€hlen, die sich durch eine exemplarische LebensfĂŒhrung auszeichneten, setzte sich nur langsam und zögernd durch. Dennoch zeitigte die von der Kirche geförderte Tendenz schliesslich umfassende Wirkungen.

Vom 8. Jh. an beginnen sich die biblischen Namen auch ausserhalb Italiens regelmĂ€ssig durchzusetzen; das 9. und mehr noch das 10. Jh. zeigen dann den endgĂŒltigen Durchbruch der neutestamentlichen Namen als Taufnamen.

Biblische Namen, das heisst vor allem Namen der universell verehrten Heiligen, treten in Massen an die Stelle der plötzlich aus den Dokumenten verschwindenden germanischen und lateinischen Eigennamen. Johannes, Petrus, Andreas, Stephanus werden nun in Italien, Frankreich, Deutschland zu den hĂ€ufigsten Namen ĂŒberhaupt. Die lokalen Namenlandschaften gehen immer mehr auf in einer europĂ€ischen Namenlandschaft.

Auch in RÀtien wurde der Anteil der biblischen Namen im Verlauf des Mittelalters sehr bedeutend. Namentlich Johannes, Petrus, MatthÀus, Thomas, BartholomÀus, Barbara, Nikolaus, Katharina werden sehr beliebt. Man muss diese Entwicklung in Zusammenhang mit anderen Strömungen der Zeit sehen, mit der Ausbreitung neuer Heiligenkulte, mit der Konzentration auf wenige Dutzend religiöser und weltlicher Leitnamen, die im Grunde nichts mehr mit der Tradition zu tun hatten.

Was die Entwicklung hier im einzelnen betrifft, ist freilich auf eine empfindliche InformationslĂŒcke hinzuweisen: eigentlich wissen wir in den entscheidenden Jahrhunderten des Hochmittelalters nur ĂŒber die Namen der Bischöfe lĂŒckenlos Bescheid, denn fĂŒr die Nichtkleriker lassen uns die sehr spĂ€rlich fliessenden Dokumente jener Zeit fast vollstĂ€ndig im Stich. Immerhin scheint es, dass die neue Namenmode zuerst in den unteren sozialen Schichten zum Durchbruch kam; der Adel verhielt sich ihr gegenĂŒber zunĂ€chst ablehnend, da sie ein Demutsideal verkörperte, das seinem WeltverstĂ€ndnis eher fremd war.

Von den biblischen Namen ist der Schritt nicht gross hinĂŒber zu den Heiligennamen des Hochmittelalters. Wir haben fĂŒr RĂ€tien zu unterscheiden zwischen 1. einer geschlossenen spĂ€tantik-frĂŒhmittelalterlichen Namenschicht, die in dieser Form in den NachbarlĂ€ndern lĂ€ngst untergegangen war und die nicht auf die Heiligenverehrung zurĂŒckging, und 2. jener Gruppe von Namen, welche aus dem Heiligenkult vor allem des Hochmittelalters hervorgegangen war und welche in zahlreichen volkstĂŒmlichen Patrozinien (also in den Namen von Kirchenpatronen) weiterlebten.

Der Reliquienkult, der seit dem 5. Jh. aufgekommen war, trug massgeblich bei zur mittelalterlichen Heiligenverehrung und damit zur Verbreitung der Kulte und Namen einzelner Heiliger, Apostel, MĂ€rtyrer und Bekenner. Die Errichtung der vielen hoch- und spĂ€tmittelalterlichen Kirchenpatrozinien und damit in Zusammenhang die Entstehung spezifischer regionaler Namentraditionen ist nach Konrad Huber (RN 3, 333) wohl in erster Linie auf Reliquienvergabungen und Reliquienhandel zurĂŒckzufĂŒhren. Dabei war die «Fruchtbarkeit» der einzelnen Heiligennamen fĂŒr die Bildung von Familiennamen ganz unterschiedlich. Hiezu ein Beispiel:

GraubĂŒnden zĂ€hlt etwa 350 vorreformatorische Kirchen, in denen 96 verschiedene Kirchenpatrone verehrt werden. Nicht alle diese Heiligen waren in gleichem Masse namenbildend. Allein von Johannes sind 164 formal verschiedene Familiennamen abgeleitet, von Antonius deren 64, wĂ€hrend umgekehrt nur ein einziges Johannes-Patrozinium und kein einziges Antonius-Patrozinium vor dem Jahr 1000 nachgewiesen ist. Anderseits gibt es eine ganze Reihe von Kirchenpatronen, die ĂŒberhaupt keinem der heutigen Familiennamen zu Gevatter gestanden haben; so etwa Maria, Brigitta, Gallus.

Wesentlicher als die etwas entrĂŒckten Kirchenpatrone waren fĂŒr die Ausbildung von Familiennamen die Altarheiligen, denn sie traten dem GlĂ€ubigen bildhafter entgegen, waren populĂ€rer, vertrauter, sie trugen menschliche ZĂŒge und kamen der Volksfrömmigkeit besonders entgegen.