«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Nebel über dem Rheintal, talaufwärts gesehen, hinten der Fläscherberg.

Das Romanische oder Churwälsche in Unterrätien

Und das längst verstummte Romanische Unterrätiens und des Churer Rheintals? Um uns ihm anzunähern, müssen wir noch weitere Auskunftsmittel ausschöpfen. Anzunehmen ist zunächst, dass vom Bündner Rheingebiet und namentlich von den nördlichen Teilen Graubündens her engere mundartliche Verbindungen ins Romanische Unterrätiens hinaus bestanden. Welcher Art diese Zusammenhänge waren, ist eine Frage, zu der sich hauptsächlich von der Ortsnamenforschung her noch Anhaltspunkte gewinnen lassen. Da die Romanismen der verdeutschten Gebiete ja seit langem von der jüngeren Entwicklung ihrer Herkunftssprache abgeschnitten sind, ermöglichen sie (hinter den durch das Deutsche bewirkten Verfremdungen) wichtige Einblicke in eine ältere Sprachschicht. Die Frage ist in der bisherigen Forschung verschiedentlich aufgeworfen und auch teils unterschiedlich bewertet worden. Dass die Einschätzungen der Forscher hier im einzelnen auseinander gehen, hängt mit deren unterschiedlichen Blickrichtungen ebenso zusammen wie mit der Epoche ihres Wirkens sowie natürlich dem fragmentarischen Charakter der Vergleichsmaterialien.

Der Indogermanist Dr. Robert von Planta (1864-1937), Begründer des Dicziunari Rumantsch Grischun und des Rätischen Namenbuches, hat aus Ortsnamen und sonstigen Quellen den Schluss gezogen, dass «das einstige Romanisch der Stadt Chur [...] in wichtigen Punkten enger mit dem Surselvischen verwandt war als mit dem Romanischen des Hinterrheingebietes und Engadins» (Planta 1931, 86). An einer anderen Stelle sieht er keine tiefgreifenden Unterschiede zwischen den romanischen Mundarten Churs und der Sarganser Gegend (Planta 1920, 67).

Der Zürcher Romanist Prof. Jakob Jud (1882-1952) bezeichnete in seiner Abhandlung zur Geschichte der romanischen Reliktwörter in den Alpenmundarten der deutschen Schweiz das ausgestorbene Romanische Unterrätiens in wortgeographischer Hinsicht als mit dem heutigen Bündnerromanisch grundsätzlich identisch (Jud 1945, 108) – ein allgemeiner Befund, der sich auch bei fortschreitender namenkundlicher Erforschung Unterrätiens durchaus bestätigt.

Der Vorarlberger Forscher Dr. Josef Zehrer (1922-2016) hat für das Romanische von Vorarlberg in gewissen Zügen der Vokalentwicklung ein Hinneigen zu den Verhältnissen in Mittelbünden und Oberengadin festgestellt (Zehrer 1949, § 94). Nach Prof. Guntram Plangg (Universität Innsbruck) wieder steht das Surselvische der vorarlbergischen Romanität am nächsten (Plangg 1964, 26).

Auch der Zürcher Romanist Prof. Heinrich Schmid vermutet, dass die von ihm herausgearbeitete Sprachlandschaft in der Mitte Graubündens, von der Bernina bis gegen Chur reichend, «einst auch die Hauptstadt selbst sowie weitere heute verdeutschte Teile der nördlichen Raetia Prima» umfasste (Schmid 1976, 62).

Solche Bezugnahmen werden sich anhand neuer, noch nicht ausgewerteter Namenmaterialien im Vorland Graubündens noch verfeinern lassen. Während die Forschung im Fürstentum Liechtenstein mit dem Liechtensteiner Namenbuch 1999 (Ortsnamen) bzw. 2008 (Personennamen) abgeschlossen ist und nun auch das Werdenberger Namenbuch (Ortsnamen) fertig vorliegt, steht hier vor allem noch das Sarganserland mit seinen zahlreichen romanischen Relikten im Blickfeld. In Vorarlberg lässt sich im Vorarlberger Flurnamenbuch das gesamte Nameninventar überblicken; noch liegt aber der im Gesamtplan vorgesehene Deutungsteil nicht vor. Wie die Innsbrucker Reihe Romanica Aenipontana (zusammen mit einigen ungedruckten Innsbrucker Dissertationen) augenfällig macht, wird die umfassende Erforschung der romanischen Namen Vorarlbergs noch viele neue Einzelerkenntnisse bringen. Sicher ist, dass die altromanischen Gebiete ausserhalb Graubündens, die Raetoromania submersa, eine wesentliche Informationsquelle zur Geschichte auch des heutigen Bündnerromanischen darstellen.