«Namen sind ungeschriebene Geschichte»
Über dem Rhein liegen Balzers und Mäls, dahinter die Luziensteig, rechts der Fläscherberg.

Spuren altromanischer Zweikasusflexion

In Graubünden verbreitet ist eine Gruppe doppelsprachiger Ortsnamen des Typs Trun/Truns, Flem/Flims, Trin/Trins, deren «deutsche» Form stets ein -s aufweist, das in der «romanischen» Form fehlt. Es ist vor längerem nachgewiesen worden (vgl. Schmid 1951), dass dieses «Ortsnamen-s» nicht etwa alte Pluralformen (ebenfalls auf -s) verrät, sondern als Zeichen für den Nominativ der Einzahl zu verstehen ist (und damit auf die entsprechenden lateinischen Endungen -us oder -is zurückgeht). Die Erscheinung führt uns zurück in das Mittelalter, als im Alträtoromanischen die beiden Fälle Nominativ und Akkusativ beim männlichen Substantiv noch durch Endungen unterschieden wurden (sogenannte «Zweikasusflexion»); vgl. etwa im Lateinischen: Nominativ campus – Akkusativ campum.

Die Ortsnamenformen auf ‑s (wie sie sich im deutschen Sprachgebrauch erhalten haben) sind demnach nichts anderes als «Versteinerungen» romanischer Einzahl-Nominative, die dann zum blossen «Ortsnamenzeichen» wurden. Dieses konnte sich, wie beim deutschen (!) Namen Klosters, gelegentlich sogar über die Grenzen der Sprache hinaus weiterverbreiten.

Wie konnte es zu dieser Funktionsverschiebung kommen? Offenbar wurde zur Zeit der Zweisprachigkeit - noch bevor sich die Zweikasusflexion völlig aufgelöst hatte - dieses Anhängsel vom alamannischen Bevölkerungsteil aufgegriffen und zum Merkzeichen «deutscher» Namenformen umfunktioniert. Das ursprüngliche, funktionale Nebeneinander zweier romanischer Flexionsformen war damit unversehens in den Bereich der in zweisprachigen Gebieten normalen Herausbildung je eigensprachlicher Namenformen geraten.

Auch in Unterrätien finden sich Namen auf -s in grosser Zahl, Dorfnamen ebenso wie Flurnamen. Im Unterschied zu den bündnerischen Doppelformen (Trun/Truns) aber leben im verdeutschten Raum in der Regel nur mehr Formen mit -s weiter (im Unterschied zu zahlreichen urkundlichen Formen). Man denke an Balzers (FL), an Sax, Gams, Grabs, Buchs, Rans, Gretschins (alle Werdenberg), an Sargans, Wangs, Vilters, Pfäfers, Mels, Flums, Mols (alle Sarganserland). In Vorarlberg finden sich: Nüziders, Schlins, Bürs, Brederis, Schnifis, Göfis, Röthis, Röns, Düns, Bludenz (vgl. Zehrer 1960, 116). Einen Sonderfall bilden dort Schruns und Tschagguns im spät verdeutschten Montafon; neben ihnen leben die «romanischen» Formen Schru und Tschaggu im regionalen mundartlichen Gebrauch weiter. Und vereinzelt treten auch in Bewohnernamen auf -er (Göfner, Schnifner) noch die s-losen Ortsnamenformen hervor.

Aus dem Bereich der Flurnamen auf -s mag hier eine kleine Auswahl (ohne Berücksichtigung Vorarlbergs) genügen (gelegentlich könnten hier freilich auch alte Plurale vorliegen): Ferfiggs, Ferplanggs (Wartau); †Gamschplan, Grups, Gulms, Tafadils (Grabs); Aviols (Balzers), Faschiels, Runkels (Triesen), Dux, Sax (Schaan), Flux (Eschen), Gampalütz (Mauren), Bangs (Ruggell). Sarganserland: Portels (Mels), Chastels (Sargans, Mels), usw.